Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
Vom Netzwerk:
sich im Arm, nur für einen kurzen Moment, aber die Zeit schien stillzustehen.
    Er ist womöglich noch größer geworden, dachte Johannes, vielleicht kommt es mir aber auch nur so vor. Allerdings, schmal ist er im Gesicht und erschöpft sieht er aus, aber das kommt sicher von der Grippe. Friedrich nahm Johannes’ Tornister und schulterte ihn, dann gingen sie miteinander hinaus auf die Straße, die durch das Unterdorf zur Enz und dann zum Oberdorf führte. Keiner wusste in diesem Augenblick etwas zu sagen. Worte drängten sich auf Johannes’ Lippen, viele Worte, Worte der Freude, und ganz viele Fragen. Fragen vor allem, wie es zu Hause gehe, und dann wollte er ihm doch erzählen, wollte die Bilder, die er nicht malen konnte, wenigstens in Worte umsetzen, obwohl er jetzt schon wusste, dass das nicht gelingen würde. Wie anfangen?, fragte er sich, aber Friedrich kam ihm zuvor: »Besser, ich sag’s dir gleich. Der Empfang ist nicht ganz so, wie wir es uns vorgestellt haben. Die Mädchen haben gerade vorhin eine Girlande aus Tannenreisig an der Tür befestigt, eine Girlande extra für dich haben sie gemacht – da kam der Pfarrer! Mühlbecks Ludwig hat’s erwischt, stell dir vor. Vor zwei Wochen schon, aber man hat es jetzt erst mitgeteilt. Eine Granate hat ihn zerrissen und es gab nicht mehr viel, woran man hätte erkennen können, wer das einmal gewesen war.«
    Johannes musste mehrere Male schlucken. Mühlbecks Ludwig war tot! Er sah ihn vor sich, am Abend, bevor sie miteinander losgefahren waren, in diesen Krieg, auf den sich Ludwig mit der Begeisterung eines Kindes gefreut hatte. Den Arm hatte er um ihn gelegt, ganz fest hatte er ihn gedrückt und ihm die Flasche unter die Nase gehalten. »Trink, Johannes, mein alter Freund. Morgen ziehen wir in den Krieg!« Und er sah ihn nachts in der Stadtmühle, wie er etwas in den Keller zerrte und verschwörerisch grinste. »Maul halten, Johannes, kriegst auch was davon ab.«
    Ludwig Mühlbeck, versoffen, verschlagen und faul. Aber Johannes sah auch den kleinen Ludwig vor sich, rotzverschmiert und heulend, weil der alte Mühlbeck ihn wieder einmal verprügelt hatte, und als letztes Bild beschwor er den Ludwig aus vergangenen Sommertagen herauf, am Café Wirtz stehend, sein Eis schleckend und so etwas wie Glück auf dem derben, breiten Gesicht. So wollte er ihn in Erinnerung behalten!
    »Wo ist es passiert?«, fragte er heiser.
    »Drüben in Frankreich, bei einer Stadt, die man gar nicht aussprechen kann. A ... Amiens oder so ähnlich, der Herr Pfarrer hat’s jedenfalls so gesagt.«
    »Und wie nehmen es die Mühlbecks auf?«
    »Wie zu erwarten, würde ich sagen. Die Alte schreit das halbe Dorf zusammen und der Ernst hockt in der Küche und heult. Wohl weniger wegen dem Ludwig, sondern weil er völlig durcheinander ist. Mutter kümmert sich um ihn. Guste sagt kein Wort und schleicht herum wie ein Gespenst und der Alte ist gleich losgezogen, mit Otto im Schlepptau, um den Tod des ›Heldensohnes‹ auf seine Art würdig zu begehen. Macht auf Mitleid und schnorrt sich den Fusel zusammen. Heute Abend wird er wahrscheinlich wieder sturzbetrunken sein. Kostenloser Rausch als letzte Dreingabe des vielversprechenden Erstgeborenen.«
    »Fritz, so was solltest du nicht sagen.« Johannes war entsetzt. Wie bitter der Freund klang und wie viel Verachtung in seiner Stimme lag. »Keiner sollte so sterben, keiner. Auch ein Ludwig Mühlbeck nicht.«
    »Entschuldige, Johannes.« Friedrich drückte leicht den Arm des Freundes. »Man stumpft ab in diesen Zeiten. So viel Tod um einen herum. Aber du bist da, und das ist die Hauptsache! Komm, wir gehen schnell nach Hause, die anderen warten schon.«
    Auf dem Weg erzählte ihm Johannes in groben Zügen, wie es zu seiner Verwundung gekommen war. Sie hätten unter Dauerbeschuss gelegen und die Versorgung an den vorderen Frontlinien sei völlig zusammengebrochen. Er erzählte von der Qual der Männer, die tagelang Hunger und Durst leiden mussten. In Tümpeln, aus denen die Wasserträger schöpfen konnten, hätten immer mehr Leichen gelegen, bald sei das Wasser völlig verseucht gewesen. Da habe er noch einmal seine Flaschen gefüllt und sei nach vorne gerannt zu den Schützengräben, sei gerannt zwischen der aufgepeitschten Erde, die unter Kugelhagel und Granateinschlägen dröhnte, immerzu gerannt, nach vorne zu den kämpfenden Männern. Und plötzlich habe er diesen Schmerz in der Schulter gespürt, einen grellen Schmerz, der ihn umwarf. Er war in

Weitere Kostenlose Bücher