Beerensommer
Drähte hatte er wie ein Spinnennetz auf ein ovales Silberstück gelötet. Das Schmuckstück sah sehr eigenwillig aus, es war nach einem eigenen Entwurf von ihm gearbeitet und er hatte ein Donnerwetter befürchtet wegen seiner »Extravaganzen«, aber Herrn Wackernagel hatte es gut gefallen. »Vielversprechendes Talent«, aber was bedeutete das schon, jetzt wo er hinausmusste in den Krieg? Plötzlich ging ihm auf, wie gerne er hier war, trotz des verhassten Feilens, Sägens und Bohrens.
19
Wieder sieht sie auf dem Display die wohl bekannten Buchstaben aufleuchten: Neue Mitteilung . Seufzend drückt Anna auf Lesen . Schon wieder Pia! Sie meldet sich auch sofort, als habe sie das Handy griffbereit. Sturzbachartig kommen die Vorwürfe, was ihr einfiele, warum sie sich nicht melde.
»Einfach das Handy ausschalten und was ist überhaupt ...«
»Reg dich ab«, sagt Anna kurz und kühl in Pias Wortschwall hinein. »Mir geht’s gut. Ich hatte bloß noch keine Zeit. Immerhin habe ich dir eine SMS geschickt.«
»Ja, gleich nachdem du angekommen bist. Und seitdem: Funkstille. Wo genau bist du denn? Und was treibst du da?« In Pias tiefer, kehliger Stimme, die sie sich durch unzählige Marlboros redlich erworben hat, liegt unverkennbar Misstrauen.
»Das habe ich dir doch alles schon verklickert! Ich wohne bei einer Bekannten meines Urgroßvaters, einer ganz lieben alten Dame. Du wirst es kaum glauben, aber sie ist schon fast neunzig Jahre alt.«
In Pias Welt kommen neunzigjährige alte Damen nicht vor. Deshalb sagt sie auch unwirsch: »Jetzt verarschst du mich!«
»Nein, Pia, wirklich nicht. Und es geht mir gut. Ich hab Bekannte meines Urgroßvaters kennen gelernt. Sie sollen sogar mit mir verwandt sein, stell dir das mal vor.«
Pia ist an diesen Bekannten nur mäßig interessiert. »Und was ist mit diesem Haus von deinem Uropa, das du verscherbeln willst?«
»Sachte, sachte, so schnell geht das nicht. Ich bleibe auf jeden Fall noch einige Tage hier.«
»Einige Tage«, murrt Pia, »was immer das bei dir auch heißen mag. Melde dich auf jeden Fall wieder und lass dein Handy angeschaltet, hörst du! Es ist übrigens auch ein Brief gekommen, vom Notar. Du weißt schon, wegen Maries Nachlass und so.« Auf einmal klingt ihre Stimme ganz brüchig. »Also, mach keinen Scheiß. Ich hab Marie versprochen, dass ich auf dich aufpasse.«
Anna muss schlucken. Sie hat ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Die gute, alte Pia, sie macht sich echt Sorgen ...
»Versprochen. Und grüß Luigi und die anderen! Es geht mir wirklich gut hier. Weißt du, ich lerne gerade zwei sehr interessante Männer kennen.«
»Was?« Der Schrei müsste auch ohne Handy von Berlin bis hierher zu hören sein.
Anna lacht. »Keine Sorge, sie sind schon lange tot. Es handelt sich um meinen Urgroßvater und seinen Freund.«
»Ach so. Du sollst mich nicht immer so auf den Arm nehmen, du Knalltüte. Aber ich freue mich, dass es dir gut geht. Klingst jedenfalls wieder ganz munter!«
Sie erzählt noch kurz, dass sie alle Pflanzen in der Wohnung gegossen und im Übrigen den Kühlschrank ausgeräumt hat. »Eine Woche alte saure Milch! Grüne, stinkende Wurst, der Schimmel konnte schon fast laufen, so alt war der. Igitt!«
Anna bedankt sich überschwänglich bei ihr. Leise sagt sie: »Weißt du, ich hatte anderes im Kopf.«
»Schon gut, Kleines. Also, bis bald. Pass auf dich auf.«
Wie sie das hasst, »Kleines« genannt zu werden. Typisch Pia, schlüpft mit Inbrunst in die Mutterrolle. Anna überlegt eine Weile. Geht’s mir wirklich besser? Es ist so viel passiert, dass sie gar nicht zum Nachdenken gekommen ist. Tief drin sitzt noch der Schmerz, die Sehnsucht nach ihrer Mutter, ihrem Duft, ihrem Lachen. Noch einmal in den Arm genommen werden, ein einziges Mal noch, und das Kitzeln von ihren Haaren im Nacken spüren. Aber es tut nicht mehr so schrecklich weh, andere Bilder schieben sich dazwischen, anderer Schmerz und Kummer teilen sich ihr mit, die ihren eigenen erträglicher machen. Sie muss immerzu an den kleinen Wilhelm denken, wie er daliegt in seinem roh gezimmerten Sarg, das Holzpferdchen zwischen den kalten, starren Händen, sie muss an Frau Weckerlin denken und ihre Tränen und an Friedrichs Verzweiflung und Johannes’ Angst vor dem Krieg.
Krieg, das ist für sie immer etwas Fernes und Abstraktes gewesen. Ihre Mama ging oft auf Antikriegsdemonstrationen (was Johannes wohl dazu gesagt hätte?). Sie kann sich noch erinnern, wie sie schon als
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