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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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kleines Mädchen auf ihren wackligen Beinchen an der Hand der Mutter zwischen all den Menschen mitlief, die gegen die atomare Aufrüstung und später auch gegen den Golfkrieg demonstrierten. Krieg war etwas Böses, das war ihr schon früh klar geworden, aber das Böse war weit weg, war nichts Greifbares und Vorstellbares.
    »Erinnerst du dich eigentlich noch an den Krieg?«, fragt sie unvermittelt Gretl, die gerade hereingekommen ist und missbilligend auf das »Ding« in Annas Hand starrt, das sie zutiefst verabscheut. Dass man an jedem x-beliebigen Platz angerufen werden kann, will nicht in Gretls Kopf! Sie hat noch ein richtiges Telefon mit Stecker und Wählscheibe an einem festen Platz im Flur und es ist zum Totlachen, wie sie telefoniert: Ganz steif steht sie da, den Hörer in der Rechten fest ans Ohr gedrückt und manchmal verbeugt sie sich vor dem unsichtbaren Gesprächspartner und am Ende legt sie ganz behutsam den Hörer auf die Gabel, als sei beides höchst zerbrechlich. Wahrscheinlich hat sie früher schon die Anrufe so entgegengenommen, zuerst als Dienstmädchen und später als Hausdame in der großen Halle der Villa Weckerlin, die ihr Richard und Fritz nachher zeigen werden.
    Endlich löst Gretl den Blick von dem verabscheuten »Ding« und fragt: »Welchen Krieg meinst du?«
    Anna ist für einen Moment verblüfft, aber dann wird sie ganz verlegen. Wie konnte sie so dumm sein. Gretl hat doch zwei Kriege miterlebt, zwei große Weltkriege. Leise sagt sie: »Den ersten meine ich, ich lese gerade, wie Johannes seinen Musterungsbescheid bekommen hat.«
    Gretl setzt sich auf das Sofa und streicht die Kittelschürze glatt. Zögernd sagt sie: »Ja, ich erinnere mich noch. An den Kriegsausbruch zwar nicht, da war ich noch zu klein, aber von später, von später sind schon Erinnerungen da.«
    »Und was fällt dir dazu ein?«
    Spontan antwortet die alte Frau, die geistesabwesend vor sich hin starrt: »Hunger. An den Hunger erinnere ich mich noch ganz deutlich! Abends konnte ich oft nicht einschlafen, weil mein Magen so wehgetan hat. Die Mutter hat dann immer geweint, weil sie mir nichts geben konnte. Wir hatten doch gar nichts in der Stadtmühle. Aber den anderen im Dorf ging es auch nicht viel besser. In das Brot hat man damals Sägemehl getan, scheußlich war das und es hat nicht richtig gesättigt. Diejenigen, die eine Kuh oder eine Ziege oder einen Kartoffelacker hatten, waren etwas besser dran, aber gehungert haben wir alle, vor allem im Winter. Und dann ...«
    Sie hält für einen Moment inne, ihr Blick wird auf einmal ganz leer.
    »Ja?«, fragt Anna gespannt nach. »An was erinnerst du dich noch?«
    »An die Schreie«, sagt Gretl leise, »an die Schreie der Mütter, wenn die Nachricht kam, dass der Sohn gefallen ist. Manche haben stundenlang geschrien, bis sie keine Stimme mehr hatten. Später, im Zweiten Weltkrieg, habe ich diese Schreie wieder gehört, obwohl es gefährlich war, denn man musste aufpassen, sonst haben sie einen geholt, wegen Wehrkraftzersetzung oder wie sie das nannten. Aber die Schreie der Mütter in beiden Kriegen, die habe ich nie vergessen!«
    Später fragt Anna, ob sie sich noch an den Abend erinnern kann, als Johannes »den Brief« bekam. Gretl nickt bedächtig. Doch, da seien einige Erinnerungen da, sie erinnere sich nicht mehr an alles ganz genau, aber manches wisse sie noch. »Dein Urgroßvater kam in die Küche herein und er war ganz bleich. Die Ahne hat bei seinem Anblick wieder zu weinen angefangen, gar nicht mehr aufhören können hat sie und der Johannes hat versucht, sie zu beruhigen. Wir beide, Emma und ich, haben dann auch wieder angefangen zu heulen, ein schönes Spektakel war das. Als die Ahne am Nachmittag mit ihrem Geschrei anfing, habe ich meine Mutter ganz erschrocken gefragt, was denn geschehen sei. Sie hat mir erklärt, dass der Johannes vielleicht in den Krieg muss, und da haben wir schon geheult, die Emma und ich, weil wir doch wussten, dass viele Männer nicht mehr aus dem Krieg zurückkamen. Als der Johannes dann am Abend in der Küche saß, haben wir uns richtig an ihm festgekrallt, Emma und ich. ›Du darfst nicht weggehen, Johannes‹, haben wir abwechselnd gerufen, ›wir müssen doch im Sommer wieder in die Beeren gehen! Und wer erzählt uns Geschichten und liest uns vor?‹ Wir haben an ihm herumgezerrt und vorgeschlagen, er soll sich im Keller verstecken, jetzt gleich. In der Stadtmühle gab es nämlich ein unterirdisches Gewölbe, ziemlich dunkel und

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