Beerensommer
karg er auch war, weg von den Menschen, die ihm so lange schon vertraut waren. Es wurde Realität, dass er hinausmusste in das Unbekannte, das aber nicht lockend und verheißungsvoll auf ihn wartete wie im Buch, sondern das Tod bedeuten konnte und ewige Dunkelheit.
Friedrich mochte ahnen, was plötzlich in ihm vorging, er blieb dicht vor ihm stehen, so dicht, dass sein Atem Johannes streifte. »Weißt du was«, sagte er mit heiserer Stimme, »an das Nächstliegende haben wir noch gar nicht gedacht!«
»Und was soll das sein?«
»Du bist nicht tauglich! Das ist es, Johannes – nicht tauglich! Denk doch an die Geräusche auf der Lunge, die der Doktor in der Schule immer gehört hat. Das musst du ihnen sagen, unbedingt.«
Zweifelnd starrte Johannes den Freund an. »Meinst du wirklich?«
»Ganz bestimmt. Und jetzt komm herein. Meine Mutter hat sicher heißen Tee gemacht. Und wie ich Mühlbecks Ludwig kenne, steht er bald mit einer Flasche Schnaps in der Tür, um mit dir anzustoßen. Das wird noch ganz lustig.«
Lustig war es dann auch geworden, lustig und traurig und komisch und verzweifelt. Mühlbecks Ludwig war tatsächlich gekommen, mit einem mordsmäßigen Rausch und einem schier unerschöpflichen Vorrat an Schnaps. Er stieß immer wieder mit Johannes, seinem »Kameraden«, an, drängte allen anderen ebenfalls seinen Fusel auf, von dem die Ahne und Frau Weckerlin nur kosteten. Lene trank allerdings ein paar Gläschen und später kamen die anderen Mühlbecks dazu. Vater Mühlbeck war ebenfalls betrunken, aber friedfertig. Im Verlauf des Abends wurde er wieder sentimental und schwadronierte von seinem »Heldensohn«, der Kaiser und König nun dienen sollte, und man gewann den Eindruck, dass Ludwig Mühlbeck den Krieg ganz allein entscheiden würde. Frau Mühlbeck sagte gar nichts, sie tätschelte nur unbeholfen immer wieder Ludwigs und Johannes’ Hand.
Der ungewohnte Alkohol war Johannes rasch zu Kopf gestiegen. Später wusste er nicht einmal mehr, wie er eigentlich ins Bett gekommen war. Das Letzte, an das er sich noch erinnerte, war Friedrich gewesen, wie er versonnen auf den Küchenherd geblickt hatte, in dem sich noch etwas Glut befand, die rötlich durch die Ritzen der Ofentür schimmerte. Friedrich starrte in dieses verglimmende Rot und Johannes erinnerte sich später immer wieder an seinen Gesichtsausdruck. Er kannte und fürchtete ihn, diese Mischung aus Stolz und Trauer, und seit Wilhelms Tod war da noch etwas, was man nicht deuten konnte, aber es machte sein Gesicht hart und verschlossen.
Herr Wackernagel drückte am nächsten Morgen sein Bedauern aus, einen so tüchtigen und vielversprechenden Lehrling zu verlieren.
»... wenn auch nur vorübergehend, Johannes, ich hoffe, Sie missverstehen mich nicht, denn an Ihrer gesunden Wiederkehr zweifle ich keineswegs – wie auch nicht am glücklichen Ausgang dieses Krieges ...« Herr Wackernagel verhedderte sich im Gestrüpp seiner Rede und wurde ganz rot im Gesicht, aber Johannes, der einen richtigen Brummschädel hatte, hatte sowieso nur die Formulierung »tüchtiger und vielversprechender Lehrling« herausgehört und sich gefreut.
Vielleicht war Herr Wackernagel angesichts des Abschieds besonders sentimental gestimmt, jedenfalls setzte er seine Lobrede sogar noch fort: »Ich sage das keineswegs, weil Sie jetzt in den Krieg müssen, als Trost gewissermaßen. Sie sind wirklich ein talentierter Mann. Ein noch ungeschliffener Diamant zwar, aber einer, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.«
Herr Wackernagel lächelte. Wahrscheinlich gefiel ihm seine Redewendung, die gut zu einem Goldschmied passte. »Ungeduldig sind Sie, Johannes, die Drähte, die Sie ziehen sollen, brechen oft ab. Die rechten Winkel sind nicht immer exakt und wenn Sie mit der Säge gerade Linien ziehen sollen, nun ja, das wissen Sie ja selbst. Aber das kann man lernen. Was Sie in hohem Maße haben und was man nicht lernen kann, das ist echtes künstlerisches Talent. Wenn ich mir Ihre Entwürfe ansehe ... ganz außergewöhnlich, Johannes«, hier brach Herr Wackernagel, der noch röter im Gesicht geworden war, verlegen ab, legte seinem vielversprechenden Lehrling die Hand auf die Schulter und wünschte ihm feierlich alles Gute.
Johannes ging ganz betäubt zu seinem Platz zurück. So viel Lob auf einmal ... Er wollte sich freuen, aber es ging nicht. Er zog das Auffangfell über die Knie und begann mit der Nadel eine Brosche zu bearbeiten, die er gestern begonnen hatte. Feine
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