Beerensommer
werde ich nie vergessen! Wir saßen am Fenster, es gab schon Eisblumen und wir hauchten immer wieder dagegen, um freie Sicht zu bekommen. Eine ganze Gruppe war es, die von der Musterung kam, alle sturzbetrunken, torkelnd und grölend. Der Johannes hielt sich abseits, und die Art, wie er den Kopf hängen ließ und ging, verriet alles. ›Er schaut wieder inwendig‹, hat die Ahne gesagt. Sie hatten ihn also für tauglich befunden, obwohl einer der Ärzte dagegen gewesen wäre, erzählte Johannes, wegen seiner Lungen, aber die anderen, vor allem die Offiziere, die an einem langen Tisch saßen, wollten ihn. ›Das Vaterland braucht jeden Mann‹, hätte einer gesagt. So erzählte es uns der Johannes und an diesem Abend mussten wir alle wieder schrecklich weinen. Auch den Ludwig haben sie genommen und das konnte ich genauso wenig verstehen. Obwohl er so ein großer breiter Kerl gewesen ist, war er doch ein Kind geblieben, das gerade seinen Namen schreiben konnte. Was wusste denn der vom Krieg und irgendwelchen Feinden? Überhaupt Feinde, darunter konnte ich mir nichts vorstellen. In unserem Dorf sind früher immer wieder Franzosen aufgetaucht. An einen Lumpen- und Alteisenhändler, der aus dem Elsass herüberkam, kann ich mich noch gut erinnern. Der hatte ein flinkes Mundwerk, sprach halb Französisch und halb Deutsch. Zu mir und zu Emma sagte er immer ›Mademoiselle‹ und lachte dabei, das hat uns gut gefallen. Und der sollte auf einmal unser Feind sein? Er war nämlich richtiger Franzose und kein Elsässer, wie die Leute sich erzählten, die plötzlich schlecht über ihn redeten.«
»Und dann musste Johannes fort?«
»Ein paar Wochen später, zu Beginn des neuen Jahres, musste er zur Ausbildung nach Stuttgart. Es ist ein trauriges Weihnachten gewesen. Geschenke hatten wir natürlich keine und nicht einmal die Bäuche wurden richtig voll. Es gab ein paar Extrarationen Mehl und Schmalz, aber viel war das nicht. Und dann konnten wir nicht vergessen, dass Johannes bald in den Krieg ziehen musste. Am Tag nach Neujahr hat er seinen Pappkarton geschnürt, viel war es nicht, was er mitnahm, etwas Unterwäsche, Taschentücher und natürlich einige Stifte und etwas Papier. Sein Buch hat er ganz zuunterst gepackt. ›Hoffentlich darf ich das in den Krieg mitnehmen‹, hat er zu Friedrich gesagt. ›Es erinnert mich an euch und das Malen und meinen Traum vom guten und richtigen Leben!‹ An dem Tag, als Ludwig und er zum Bahnhof gegangen sind, war es in der Stadtmühle so ruhig wie nie zuvor. Johannes hatte nicht gewollt, dass ihn jemand begleitet. Das mache es noch schwerer, hat er gemeint. Friedrich hockte den ganzen Tag in der Küche am Ofen, als ob er ständig friere, und am Abend hat Frau Weckerlin mit ihm geschimpft, er solle sich nicht so hängen lassen und etwas essen. ›Ich dachte, du bist für den Krieg‹, hat sie zu ihm gesagt, und Emma und ich waren ganz verdattert, weil sie auf einmal so bissig zu Friedrich war, zu ihrem angebeteten Großen.«
Anna versucht sich diese Szene zwischen Mutter und Sohn vorzustellen. War die Mutter dem Sohn insgeheim böse? Und warum? Weil er in diesem Krieg die »Möglichkeiten« sah, von denen er immer gesprochen hatte, weil sie in ihm diesen Weckerlin’schen Stolz und Hochmut erkannte, der schon den Vater zu Fall gebracht hatte? Gretl berichtet weiter, Friedrich habe erst gar nichts gesagt und die Mutter nur ganz merkwürdig angeschaut. Nach einer Weile habe er sinngemäß geantwortet, dass der Krieg gut sei, wenn man ihn gewinne, und das müssten die Deutschen unbedingt. Sie müssten diesen Krieg um jeden Preis gewinnen. Das mit Johannes, das sei etwas ganz anderes. Solche Leute wie er dürften nicht in den Krieg, er sei viel zu schade dafür!
»Frau Weckerlin hat damals ganz erschrocken geguckt und Friedrich, der war irgendwie wütend, fast außer sich. Und ich selbst war sehr beunruhigt, denn in diesem Moment habe ich mich gefürchtet. Ich habe mich vor etwas gefürchtet, was in Friedrich drin war und was ihn getrieben hat. Erst viel später habe ich das klarer erkannt.«
Anna nickt. Aus all dem wird ein Bild, zwar noch sehr unvollständig, aber einzelne Teile kann sie schon erkennen.
»Wie schätzt du denn die Freundschaft zwischen Johannes und Friedrich ein, Gretl? Es kommt mir manchmal so vor, als habe Johannes mehr an Friedrich gehangen als umgekehrt.«
Gretl schüttelt energisch den Kopf. »Im Gegenteil, manchmal denke ich sogar, Friedrich hat den Johannes mehr
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