Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie (German Edition)
befreien nicht nur tendenziell von körperlicher Arbeit, sondern erhöhen obendrein den monetären Wert, welcher der verbliebenen virtuellen Arbeitsleistung zugemessen wird.
Damit greifen ausgerechnet jene, die vorwiegend immaterielle Arbeit leisten, auf den höchsten materiellen Wohlstand zu. Wer es schafft, in diesem System Fuß zu fassen, ist sowohl im privaten als auch beruflichen Alltag von Energiesklaven und globalen Lieferketten umgeben. Beides verleiht modernen Konsumenten eine Hebelwirkung, mit der sich alle Grenzen sprengen lassen, die das Repertoire der materiellen Selbstverwirklichung andernfalls regulieren könnten. Denn ohne diesen »Fortschritt« wären materielle Ansprüche zum einen an lokal und regional vorhandene Ressourcen gebunden, welche sich nicht ohne Weiteres vermehren lassen. Zum anderen würden sie durch eigene produktive Fähigkeiten begrenzt, die ebenfalls nicht beliebig steigerbar sind.
Demgegenüber bedeutet die mittlerweile erreichte Entgrenzung von Konsum- und Mobilitätsansprüchen, dass es keine Obergrenze mehr für das geben kann, was mit hohem Energieaufwand aus allen Himmelsrichtungen herbeizuschaffen oder durch eigene Mobilität flugs erreichbar ist. Dies alles steht nun in keiner Beziehung mehr zu eigenen substanziellen Leistungen. Vielmehr beschränkt sich menschliche »Arbeit« zusehends auf reine Informationsverarbeitung, das Ansteuern maschineller Prozesse oder pure Anwesenheit in Gesprächs- und Entscheidungssituationen.
Die Kreation neuen Bedarfes für immaterielle Handlungen, denen als »Dienstleistung« ein monetärer Gegenwert zugewiesen werden kann, ist nur eine Frage der Phantasie. Der elegante Trick moderner Dienstleistungen besteht gerade darin, dass diese aufgrund ihres abstrakten Charakters beliebig entworfen und willkürlich in jeden Kontext eingefügt werden können. Es gibt keine Einrichtung, Unternehmung oder Person, der sich nicht noch irgendein Service aufschwatzen ließe. Beratungen, Werbung, Aus-, Fort- und Weiterbildung, Vernetzungen, Versicherungen, Moderation, Mediation, Coaching, Vorträge, Diskussionen, Publikationen, Begutachtungen, Evaluationen, Forschung, Wellness, Spekulationen etc. markieren nur einige Bereiche, in denen praktisch substanzlose Leistungen ersonnen werden, die hohe Einkommen erzielen und folglich Ansprüche auf umso substanziellere Gegenwerte manifestieren. Die Übergänge zwischen komplett leistungslosen Einkünften, simulierten Leistungen und der wundersamen Vermehrung kreativer, zumeist »wissensintensiver« Leistungen, die niemandem fehlten, würden sie nicht erfunden, sind fließend.
Die verlängerten Arme unseres Wohlstandsmodells
Ein mühelos abzurufender Wohlstand und eine kaum minder komfortable Arbeitswelt sind offenkundig nicht zum materiellen Nulltarif zu haben. Denn technischer Fortschritt und globale Lieferketten lösen keine Knappheitsprobleme, sondern vollstrecken zwei äußerst ruinöse Strategien: Zum einen wird die Verfügbarkeit neuer Möglichkeiten insoweit mit einer Steigerung von Energie-, Flächen- und Materialverbräuchen erkauft, als immer mehr technisches Equipment eingesetzt wird. Deshalb werden gegenwärtige Knappheiten durch eine intensivierte Plünderung einfach nur zeitlich verlagert, also in zukünftig umso eklatantere Knappheiten umgewandelt.
Die andere Strategie besteht darin, Knappheiten an einem bestimmten Ort dadurch zu lindern, dass Ressourcen und Arbeitskraft an anderen Orten umso intensiver in Anspruch genommen werden. Die durch raumüberwindende Infrastrukturen entstehenden Lieferketten sind die unsichtbaren Tentakel des nördlichen Wohlstandsmodells. Direkt zugreifen lässt sich damit auf das Coltan im Kongo, die Kohle in Kolumbien (allein 2010 wurden acht Millionen Tonnen nach Deutschland geliefert), das Erdgas in Sibirien, das Erdöl unter den abschmelzenden Polkappen, das Obst aus Neuseeland, das Lithium Boliviens (Akkus für Elektromobile), die Fläche Nordafrikas (Desertec), den Urwald des Amazonasbeckens (Rodungen, um Soja zum Mästen europäischer Nutztiere anbauen zu können) oder Indonesiens (Palmöl für die chemische Industrie und zur Erzeugung von Biokraftstoffen). Der momentan zunehmende Landraub (»Land Grabbing«) bedarf keiner Waffengewalt, völlig hinreichend ist der alltägliche Wahnsinn steigender Konsum- und Mobilitätsansprüche.
In Niedersachsen ist Anfang 2012 eine interessante Situation eingetreten: Erstmals reichen die Flächen dieses Bundeslandes nicht
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