Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie (German Edition)
mehr, um den eigenen Bedarf an Getreide zu befriedigen. Der Grund? Immer mehr Landwirte haben die bisherige Getreideproduktion auf Energiemais umgestellt, denn dies wirft dank der EEG-Einspeisevergütung höhere Renditen ab. Wo wird das fehlende Getreide nun wohl herkommen?
Nicht nur Flächen und Ressourcen, mit denen hiesige Energiesklaven gefüttert werden, sondern auch die an entfernt liegenden Produktionsstätten erbrachten Arbeitsleistungen, zumeist in Asien, können einverleibt werden. Wer wäre in Europa dazu bereit, zwölf Stunden am Tag Bluejeans zusammenzunähen, iPads zu montieren oder bis zum Knöchel in den verseuchten Abwässern indischer Elektroschrottverwerter zu waten? Die schmutzigen Vorleistungen, von denen der hie sige Wohlstand zehrt, werden also nicht nur von Energiesklaven, sondern auch von »echten« Arbeitskräften erbracht. Zusätzlich zur direkten Ressourcenvereinnahmung werden indirekt durch die ausgelagerten Arbeitsstationen weitere Mengen an Energie, sonstigen Ressourcen sowie Flächen verbraucht.
Auch in umgekehrter Bewegungsrichtung lassen sich globusweit entfernte Ressourcen perfekt erschließen. Eine boomende Verkehrs- und Tourismusindustrie ebnet den Weg in die entlegensten Restbestände attraktiver Landschaft. Deren Erschließung durch physische Präsenz setzt nicht nur voraus, in den Zielgebieten komfortable Infrastrukturen zu schaffen, sondern eine ungehinderte Mobilität zu entfesseln. Flug reisen und luxuriöse Kreuzfahrten sind für immer mehr Menschen erschwinglich. Kein anderes (zumindest legales) Mittel verleiht einem einzelnen Individuum eine derartige Hebelwirkung, was den Energieverbrauch pro investierter Zeit- und Geldeinheit anbelangt. Eine Flugreise (inklusive Rückflug) nach New York verursacht pro Person durchschnittlich etwa 4 Tonnen, nach Australien etwa 14,5 Tonnen CO 2 . Die beispiellose Zunahme ausgerechnet dieser ökologischen Schadensmaximierung ist dem Umstand geschuldet, dass sowohl private als auch berufliche Praktiken auf fortschreitender räumlicher Entgrenzung beruhen. Im Berufs leben ersetzt globale Mobilität zunehmend substanzielle Arbeit: Heute eine Besprechung in Los Angeles, übermorgen ein wichtiger Termin in Paris, danach findet in New York ein Experten-Workshop statt, nicht zu vergessen das Entwicklungsprojekt in Nairobi am kommenden Montag.
Die Demokratisierung des Wohlstandes hat nicht nur eine konsum-, sondern inzwischen auch eine mobilitätsgierige Masse hervorgebracht. Globalisierungsgegner, die zwischen Seattle, Heiligendamm, Davos und dem nächsten Weltsozialforum pendeln, um für die gute Sache zu demonstrieren, sind selbst so globalisiert, dass viele von ihnen längst einen Mengenrabatt auf Flugtickets verdient hätten. Auch die Schöpfer des Bologna-Prozesses scheinen mit der Flugindustrie auf gutem Fuß zu stehen. Das Auslandssemester, das Praktikum in Übersee, die für eine Abschlussarbeit dringend notwendige Feldforschung in Südafrika etc. verwandeln das Bildungssystem allmählich in eine Bildungsindustrie, zumindest gemessen am Kerosininput.
In seinem kurzweiligen Essay »Lost and Sound – Berlin, Techno und der Easyjetset« weiß der taz-Journalist Tobias Rapp zu berichten, dass die europäische Party-Metropole an der Spree Wochenende für Wochenende von geschätzten 10.000 Billigfluggästen heimgesucht wird. Und warum? Nur weil hier ein vermeintlich besserer DJ auflegt als in Madrid, Tel Aviv, New York, Stockholm oder von wo aus sich die hedonistische Internationale gerade auf den Weg begibt. Das unbekümmerte Fliegen von Party zu Party war früher einer Elite vorbehalten, heute ist diese Form der individuellen CO 2 -Schadensmaximierung zu einem unhinterfragten Normalzustand gereift. Das entgrenzte Easyjet-Weltbürgertum kennt viele Ziele und Beweggründe dafür, es mit der individuellen CO 2 - Bilanz nicht so genau zu nehmen. Mal ist es die coole Party, mal der billige Sex, ein andermal der verheißungsvolle Shopping-Nachmittag. Manchmal ist es sogar der Weltrettungsinstinkt: Wo findet noch gleich das nächste Weltsozialforum oder der nächste Nachhaltigkeitsgipfel statt?
Plündernde Lebensstile erweisen sich überdies als ansteckend. Die Sweat-Shop-Arbeitskräfte in den Schwellenländern entwickeln zusehends ähnliche Wohlstandserwartungen wie jene, die es sich am anderen Ende der Produktionskette gut gehen lassen. Auch in China und Indien steigt die Arbeitsproduktivität und somit nicht nur der Energieaufwand, sondern
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