Begegnung in Tiflis
sich bemühen, sie nicht immer aufzureißen.
Doch dann stand er plötzlich am Bahnhof, die Züge ratterten an ihm vorbei, und da überfiel ihn die ganze Trostlosigkeit seiner plötzlichen Einsamkeit, und das Heimweh nach Rußland preßte gegen sein Herz.
Fort, dachte er da. Nur fort aus Deutschland! Nicht mit Haß, sondern mit Wehmut. Die Welt ist groß genug auch einen Dimitri Sergejewitsch Sotowskij aufzunehmen, einen Heimatlosen ohne Paß, ohne Recht, ohne Geld, ohne Zukunft, nur bepackt mit dem Willen, weiterzuleben und allein zu sein mit seinen Gedanken und seinem Heimweh nach Rußland, das er nie wiedersehen wird. Und er kaufte sich eine Fahrkarte nach Köln, saß im Zug, starrte auf die vorbeifliegende Landschaft, und erst dann, in eine Ecke des Abteils gedrückt, rundete sich das Bild seiner Zukunft und wurde sein Weggehen zu einer wahrhaften Flucht.
Öl! Frankreich bohrt Öl in der algerischen Sahara. Eine Hölle unter glutendem Himmel und heißem Sand ist es. Die Einsamkeit ist der Spielgefährte und die Sehnsucht nach einer Landschaft voll Schnee ist der süßeste Traum.
Aber Öl ist da. Bohrtürme. Eine Pipeline … durch Wüstensand bis zur Küste … Pumpstationen, silbern glitzernde Tanks, Reinigungsanlagen, eine Raffinerie im Aufbau …
Es ist die Welt des Dimitri Sotowskij. Das Knirschen der Bohrer, das Zischen der Ventile, der Geruch des Rohöls … wenn man die Augen schließt, riecht es nach Heimat. O Freunde, das ist der richtige Ort. Weit weg von Deutschland.
Drei Stunden lang erzählte Dimitri dem französischen Botschaftsrat seine Geschichte. Er merkte nicht, daß sie auf Tonband aufgezeichnet wurde, er wußte nicht, daß sie am gleichen Tage noch übersetzt und abgeschrieben wurde und nach Paris flog zum Arbeitsministerium. Er bekam etwas Geld, mietete sich in einer kleinen Pension in Remagen ein und begann des Menschen liebstes Spiel: Warten.
Drei Tage war Dimitri in Remagen. Er ging nie aus, saß am Fenster, sah auf den Rhein, aß seine Mahlzeiten in dem kleinen Eßzimmer der Pension, vermied jeden Kontakt mit den anderen Gästen, und jeden Abend, wenn es dunkel geworden war und der Rhein von flimmernden Lichtern eingerahmt war, stand er auf einem kleinen Balkon, lehnte sich an das eiserne Geländer und dachte an Bettina.
»Er ist ein Künstler«, sagte der Pensionswirt, als die anderen Gäste ihn nach dem seltsamen Menschen fragten. »Aus Polen oder sonstwo aus dem Osten kommt er. Gast der französischen Botschaft. Vielleicht ein Maler, der den Botschafter malt.« Das genügte. Man kümmerte sich nicht mehr um Dimitri. Ein Künstler! Die haben sowieso Narrenfreiheit.
Am vierten Tag ließ ihn der Botschaftsrat wieder rufen. Paris hatte schnell gearbeitet. Ölfachleute sind knapp auf der Welt, noch seltener sind Ingenieure, die freiwillig in die Sahara gehen. Am seltensten aber ist ein sowjetischer Fachmann, der seine Dienste dem Westen anbietet.
»Sie werden in einigen Tagen nach Marseille fliegen«, sagte der Botschaftsrat freundlich, als Dimitri sein angebotenes Glas Kognak getrunken hatte. »Mit einem Kurierwagen werden Sie zunächst nach Paris gebracht. Von dort fliegt man Sie nach Marseille. Der Direktor des französischen Öl-Trusts wird dann über alles Weitere entscheiden.« Der Botschaftsrat blätterte in einem Aktenstück, und Dimitri wunderte sich, wie dick es bereits war und wieviel Papier man schon seinetwegen beschrieben hatte. »Sie hatten in Tiflis keinerlei politische Schwierigkeiten?«
»Nein«, antwortete Dimitri. »Keine.«
»Das ist wichtig. Es liegt uns daran, mit Ihrem Land einen freundschaftlichen Kontakt zu pflegen. Irgendwelche Komplikationen, die aus Ihrer Flucht aus Tiflis erwachsen könnten, wären uns unangenehm! Wie ist Ihre politische Einstellung?«
»Ich weiß nicht …«, sagte Dimitri. Er verstand die Frage nicht.
»Sind Sie Kommunist?«
» Ja .«
Die alte Frage, und immer wieder die gleiche Verwunderung bei Dimitri. Warum ist das so wichtig, dachte er. Ich bin erzogen worden in diesem Geist. Bin ich deshalb ein schlechterer Mensch, ein schlechterer Ingenieur, eine Gefahr für die anderen? Die Deutschen hatten einen Bismarck, die Franzosen einen Napoleon, die Engländer ihr Königshaus, die Amerikaner einen Roosevelt. Wir hatten einen Lenin und Stalin … was hat das mit mir zu tun? Kann man einem Deutschen vorwerfen: Du bist ein schlechter Mensch, denn ihr hattet einen Friedrich den Großen? Oder einem Franzosen: Geh weg … ihr habt einem
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