Begegnung in Tiflis
Klüger, deutscher … So wie du dich jetzt benimmst, wäre es besser gewesen, du wärst in Rußland geblieben … besser für uns alle.« In diesem Augenblick zerbarst das Zimmer vor Karl Wolter. Er tat einen Schritt auf seinen Sohn zu, hob die Hand und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Wolfgang taumelte zurück. Blankes Entsetzen trat in seine Augen.
»Du schlägst mich …«, stammelte er.
»Du bist mein Sohn. Jawohl!«
»Ich trage eine Uniform …«
»Zieh sie aus, damit ich dir auf die andere Backe auch eine schlagen kann!«
»Ich bin Offizier, Vater!«
»Und ich war ein einfacher, dreckiger Feldwebel, der für euch den Kopf hingehalten hat. Für dich, du arroganter Bursche!« Karl Wolter keuchte und zog den Kopf zwischen die Schulter. Mein Herz, dachte er. O Himmel, ich spüre es im Herzen … ist stehe in einer fremden Welt, und doch ist es meine Heimat!
»Mach, daß du rauskommst!« sagte er hart. »Geh!«
»Vater …«, stotterte Wolfgang. Seine Wange brannte.
»Fahr zurück zu deinen Kameraden. Sing mit ihnen: Gen Ostland woll'n wir reiten. Wir haben es auch gesungen, und ich war so alt wie du. Was daraus geworden ist, siehst du. Hau ab, du deutscher Offizier!«
»Du bist wirklich ein Russe«, sagte Wolfgang dumpf. Er nahm seine Mütze und setzte sie auf. »Unsere arme Mutter!«
Karl Wolter bückte sich, irgend etwas ergriff er, schwenkte es durch die Luft und warf es dann gegen seinen Sohn. Ein Buch war es. Ein schöner Titel: ›Die Welt, in der wir leben‹.
Wolfgang wich dem Wurf aus. Dann wandte er sich um und verließ stumm das Zimmer.
In der Küche band Dimitri seine Schürze ab. Bleich war er, über seinen Augen lag ein Schleier. Er hatte das Geschirr ins Zimmer bringen wollen und an der Tür hatte er alles gehört und gesehen und auch verstanden.
Während Karl Wolter auf dem Sofa saß, den Kopf in beide Hände vergraben, schlich sich Dimitri aus dem Haus. Er nahm nicht viel mit, nur eine Aktentasche mit Wäsche. Nicht einmal einen Brief hinterließ er. Er ging weg aus einer Welt, der er lästig war. Er verschwand lautlos wie ein Nebel, der sich zwischen den Bäumen auflöst. Sein Herz blieb zurück bei Bettina, und das war das Fürchterlichste an seiner Flucht: Er ging ohne Seele weg. Nur sein Körper suchte Zuflucht. Die Welt war weit.
Als Agnes Wolter und Bettina aus der Kirche zurückkamen, war alles schon geschehen.
Karl Wolter rannte durch das Haus und schrie nach Dimitri. Nur mit Mühe konnte Agnes ihn beruhigen und auf das Sofa drücken.
»Einmal wird Dimitri schreiben«, sagte Bettina, als sie aus seinem Zimmer zurückkam, starr und wächsern wie eine Schaufensterpuppe. »Und wo er auch ist, ich fahre zu ihm … und wenn es zurück ist nach Tiflis.«
Und da erst weinte Karl Wolter.
*
Der Weg Dimitris hatte nichts Geheimnisvolles an sich, war fern aller Sensation, war nicht umwittert von Abenteuern, sondern es war der Weg eines nüchternen, unromantischen Alltags: Mit dem Zug fuhr er von Göttingen nach Köln, von Köln nach Remagen, und dort ließ er sich beim französischen Botschafter melden.
Ein Botschaftsrat empfing ihn in dem herrlichen Schloß über dem Rhein, eine wahrhaft königliche Residenz, und da Dimitri kaum französisch und der Botschafter kein Russisch sprach, einigte man sich auf die deutsche Sprache.
»Ich bin gekommen«, sagte Dimitri, und es tat ihm im Herzen weh, so etwas aussprechen zu müssen, »um mich bei Ihnen zu bewerben. Ich bin Ölfachmann, Ölingenieur des staatlichen Ölkombinats Tbilisi. Ich bin aus Rußland geflohen, und das ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen gern erzähle, wenn Sie Zeit für mich haben. Wir wissen auch in Rußland, daß Frankreich in der Sahara große Öl- und Erdgasvorkommen auswertet. Ich möchte um eine Stelle in der algerischen Sahara bitten.«
Ja, so war das. Genau hatte es sich Dimitri überlegt. Zuerst war er nur aus dem Haus gerannt, getrieben von dem Entsetzen, das ihn überfiel, als er Kolka auf seinen Sohn losgehen sah. Ich gehöre nicht hierher, hatte Dimitri gedacht. Ich zerstöre eine Familie, die zwanzig Jahre lang zerrissen war und nun zueinander gefunden hat. Was macht es, daß ich mein Väterchen Kolka verloren habe? Gibt es ein Recht, den Ziehvater zu behalten auch wenn man ihn liebt wie den eigenen Vater? Und Bettina muß ich aufgeben. Das ist der größte Schmerz. Das ist etwas, was man nie überwinden kann. Aber auch darüber wird einmal eine Haut wachsen, wie über jede Wunde, und man muß
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