Begegnung in Tiflis
Weltrevolution – das waren Auswüchse des Denkens –, aber er träumte von der Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen, und das ist ein guter Traum, Freunde, wenn nicht immer wieder Menschen kämen, die sich radikal benehmen und aus Ideen Ideologien machen.
Und doch: So sehr sie zueinander paßten, Wolfgang Wolter und Dimitri Sotowskij – eine Welt trennte sie. Es gab keine Brücke zwischen ihnen. Warum, das weiß keiner zu erklären. Könnte man es erklären, würden alle Politiker arbeitslos, und die Welt hätte Frieden. Kaum auszudenken.
An diesem Sonntag nun geschah es.
Bettina und Agnes Wolter waren in der Kirche, Dimitri spülte das Kaffeegeschirr in der Küche (wie er es oft in Tiflis auch getan hatte), und Wolfgang Wolter, in Uniform, ging unruhig im Wohnzimmer hin und her, während sich Karl Wolter eine Zigarre ansteckte. Wie vor einem Gewitter war es drückend im Raum.
»Was soll aus Dimitri werden, Vater?« sagte Wolfgang und blieb vor Karl Wolter stehen. Seine Worte waren wie der erste Blitz aus den Gewitterwolken.
»Ich verstehe deine Frage nicht«, sagte Wolter.
»Er bleibt bei uns?«
»Natürlich! Er wird eines Tages Bettina heiraten.«
»Ich glaube kaum, daß das möglich ist, Vater.«
Das war so klar gesagt, daß Wolter seine Zigarre weglegte. Er sah zu seinem Sohn hinauf, auf die beiden silbernen Sterne seiner Schulterstücke, und dann erhob er sich und holte tief Atem.
»Weder deine Schwester noch dein Vater werden dich um Erlaubnis bitten, wie sie ihr Leben einrichten!« sagte er laut. »Ich wünsche, daß du endlich begreifst, daß Dimitri zu unserer Familie gehört! Ich habe ihn großgezogen wie einen Sohn.«
»Unter welchen Voraussetzungen! Du warst Gefangener, du hast einer Falschmeldung geglaubt und bist in Rußland geblieben. Du hättest als Russe weitergelebt …«
»Und ich wäre auch als Russe gestorben!« rief Wolter dazwischen.
»Doch das ist jetzt alles vorbei. Du lebst wieder in normalen Verhältnissen. Und ich bin Offizier der Bundeswehr.«
»Man kann's nicht übersehen«, sagte Wolter sarkastisch. Wolfgang bekam rote Ohren. Seine Finger schabten nervös über die Handflächen.
»Vater … ich bin im Ministerium darauf angesprochen worden. Stimmt es, daß Sie einen Russen in die Familie bekommen? Ihre Schwester will einen Russen heiraten? Denken Sie daran, daß Sie Offizier des MAD sind. Es ist fast unmöglich, daß Sie in der Abteilung Ost arbeiten bei einem Bolschewisten in der Familie.« Wolfgang holte tief Atem. »Begreifst du das, Vater? Meine Karriere ist in Gefahr. Man wird mich abstellen zu einem Truppenkommando, und dort kann ich versauern! Ich soll, das hat man mir gesagt, außer der Reihe zum Hauptmann befördert werden und eine Abteilung im Amt Ost bekommen. Das ist alles hinfällig, wenn Dimitri bleibt! Hast du gelesen, was Dimitri dem Reporter der Tagesschau gesagt hat? Ich bin ein Kommunist, auch wenn ich aus Rußland geflüchtet bin. – Im Ministerium hat man kopfgestanden. Ich mußte dem General Bericht erstatten. Geschämt habe ich mich!«
»Geschämt? Wovor? Daß Dimitri Charakter hat?«
»Vater! Du willst es nicht begreifen … wir sind eine deutsche Familie, ich bin ein deutscher Offizier … wir können uns keinen Sowjetrussen in unserer Familie leisten.«
»Ich kann es!« schrie Karl Wolter.
Vor seinen Augen brannte das Zimmer.
Wo habe ich die besten Jahre meines Lebens gelebt? In Rußland, dachte er. In Tiflis wurde ich nach den Jahren in Sibirien wieder zum Menschen. In Tiflis habe ich Dimitris Mutter kennengelernt, wir hatten eine gute Ehe, und ich habe aus dem schmächtigen Jungen einen richtigen, klugen Mann gemacht. Und nun geht es nicht mehr? Nun ist er im Wege, mein Söhnchen Dimitri. Und mein eigener Sohn sagt zu mir, ich soll ihn entfernen. Hölle und Teufel, das ist zuviel an sinnloser Politik! »Dimitri ist mein Sohn wie du!« sagte er laut.
»Er ist nicht dein leiblicher Sohn!«
»Er ist mir ans Herz gewachsen wie du und Bettina! Es gibt keine Diskussion darüber, was aus ihm wird! Eine Stellung wird er annehmen und Bettina heiraten.«
»Und meine Offizierslaufbahn?« rief Wolfgang.
»Das ist eine merkwürdige Armee, die sich vor einem einzelnen Russen fürchtet.«
»Es geht um das Prinzip, Vater!«
»Scheiß was auf dieses Prinzip! Es geht um die Menschlichkeit!«
»Du denkst und du redest wie ein Russe!« Wolfgangs Stimme wurde hell wie auf dem Kasernenhof. »Ich habe mir meinen Vater anders vorgestellt!
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