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Begegnung in Tiflis

Begegnung in Tiflis

Titel: Begegnung in Tiflis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Darum frage ich, ob du Kleider für mich hast.«
    »Wie heißt du?«
    Es war eine Frage, auf die Bettina gewartet hatte. Und ohne Zögern sagte sie: »Wanda Fjodorowa, Mütterchen.«
    »Geh in die nächste Kammer, Wanduscha, und such dir etwas. Und dann komm her und erzähle mir von dir. Kannst du Maiskolben ausnehmen?«
    »Natürlich, Mütterchen.« Bettina sah sich um. Eine schmale Tür führte in einen Nebenraum, und sie stieß die Tür auf und sah vier Betten an den Wänden stehen. An einer Holzstange mit eisernen Haken hing Männer- und Frauenkleidung, und Bettina suchte sich einen alten Rock aus Baumwolle, blau gefärbt mit roten Streifen, eine hellgraue Bluse und eine gestrickte, oft geflickte Jacke aus ausgewaschener, farbloser Wolle aus. Zu einem Bündel rollte sie ihre zerfetzte Uniform und klemmte sie unter den Arm. So kam sie zurück in das große Zimmer, wo die Alte am Ofen stand und den Topf mit dem Hammel-Kascha aufs Feuer geschoben hatte.
    »Was hast du genommen?« fragte die Blinde und rührte in dem Brei.
    »Einen alten blauen Rock, Mütterchen.«
    »Von Axinja ist er.« Die Alte drehte sich um. Mit ihren toten Augen suchte sie Wanda Fjodorowa. Ein beklemmender Anblick war's. »Wo willst du hin, Vögelchen?«
    »Zu Onkelchen Wanja«, sagte Bettina. »In Tiflis hat er eine Schuhsohlerei.«
    »Ein hübsches Mädchen, und geht zu einem Onkelchen. Ha!« Die Arme warf sie empor, die blinde Alte, und schlug mit dem hölzernen Kochlöffel gegen die Wand. Der Kascha spritzte in ihre eisgrauen Haare, und was ihr dabei übers Gesicht lief, leckte sie ab. »Onkelchen sind Gauner, Täubchen. Die Flügelchen stutzt er dir, und dann baut er einen Käfig um dich, und singen mußt du, wenn er winkt. Ein so schönes Weibchen, und geht zu einem Onkelchen Wanja. Willst du nicht bei Piotr bleiben?«
    »Ich kenne deinen Piotr nicht, Mütterchen.« Bettina ging langsam durch das Zimmer. Eine Tasche fand sie aus braunem Wachstuch, und da hinein legte sie, was sie auf dem Tisch, auf dem Bord neben dem Feuer und in den Fächern eines offenen Bretterschrankes fand. Ein großes Stück Brot, eine harte Eselswurst, ein schwarzgeräuchertes Stück Speck und zwei in der Hand gedrehte Käsekugeln aus Ziegensahne. Die blinden Augen der Alten wanderten mit. Auf dem Feuer blubberte der Kascha.
    »Sieh dir alles an, Täubchen«, sagte sie. »Piotr ist ein schöner Mann. Ein großer Mann. Ein starker Mann. Na ja, auf einem Bein hinkt er, ein Unfall war's, ein dummer Unfall. Mit der Rübenhacke schlägt er sich ins Bein, das Jungchen. Bis auf den Knochen. Und keinen Laut hat er von sich gegeben, nicht einen Piepser. So ein Kerl ist mein Piotr. Sieh dir alles an. Wer geht zu einem Onkelchen in die Stadt? Du bleibst hier, und ein neues, strammes Töchterchen habe ich.«
    Bettina hatte eine große, offene Flasche in die Tasche gelegt und schöpfte nun aus einem Kessel Wasser hinein. Dann knotete sie einen Lappen darüber, gewiß, ein primitiver Verschluß, aber was sollte sie anderes tun?
    »Gefällt es dir, Wanduscha?« fragte die Alte. Sie hatte den Kessel vom Feuer geschwenkt und tastete nach einer irdenen Schüssel, die neben dem Feuer stand. Der Geruch von Thymian zog würzig durch das Zimmer, und in Bettinas Magen knurrte der Hunger.
    »Ist Piotr auf dem Feld?« fragte sie.
    »Gewiß, gewiß. Im Weinberg ist er, mit den anderen.«
    »Ich gehe zu ihm, Mütterchen, und frage ihn, ob ich bleiben kann.«
    »Ein liebes Töchterchen.« Die Alte setzte sich wieder hinter ihren Trog und den Korb mit den Maiskolben. Und sie lächelte, als die Tür klappte und dann auch die Außentür zuschlug.
    »Ein Töchterchen«, sagte sie verzückt. »Und nicht solch ein faules Schweinchen wie Axinja.«
    Bettina lehnte draußen an der Wand des Hauses und sah hinüber zu den Feldern und Weinhängen. Im Tal lag unter der gleißenden Morgensonne die Stadt Tiflis mit ihren Hügeln und breiten Straßen der Neustadt und dem Gewirr von Gassen und ineinander gebauten Häusern der Altstadt. Und mit der alten Metechi-Kirche, von der man sagt, sie stamme aus dem 5. Jahrhundert.
    Der Weg geht nach Süden, dachte Bettina und schaute hinter sich. Durch Armenien muß ich, vorbei am Massiv des Ararat, auf dem die Arche Noah gelandet sein soll, nachdem Gott die Sintflut geschickt hatte. An den Südhängen Armeniens entlang läuft die türkische Grenze. Ein lächerlich kurzes Stück für russische Weiten ist es; nur 150 Kilometer ungefähr, und irgendwo wird es einen

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