Begegnung in Tiflis
forschen. Das Unglück war geschehen, es gab genug Augenzeugen, Chefpilot Pohlmann hatte mühsam geschildert, wie es zum Absturz gekommen war, es war eine ganz klare Situation, über die man nicht lange zu diskutieren brauchte.
Die Toten wurden freigegeben und in verlöteten Zinksärgen zunächst nach Hamburg geflogen. Die Verletzten, soweit sie transportfähig waren, brachte man auch zurück nach Deutschland. Nur vier Verletzte blieben im Grusinischen Krankenhaus Nr. I zurück. Schuld daran war Professor Klimenti Kusmanowitsch Semlakow, der Chef des Krankenhauses. Er wehrte sich gegen die Verlegung der vier Patienten, unter denen Pohlmann und Andresen waren, mit der Beredsamkeit eines Marktschreiers.
»Genossen!« sagte er mit heftigen Armbewegungen bei einer internen Besprechung mit Vertretern der maßgebenden Behörden. »Übersehen wir hier einmal die Rechtslage. Darum geht es nicht. Wir haben die Gelegenheit, an vier verletzten Menschen der Welt zu zeigen, was die sowjetische Medizin zu leisten vermag. Wann hat man schon Gelegenheit, ein solches Forum zu finden? Demichow in Moskau setzte einem Hund einen zweiten Kopf auf, und die Welt war sprachlos. Doch, ehrlich, Genossen, was war's? Eine Spielerei. Kann man einem Menschen den Kopf abschneiden und woanders draufsetzen? Sie lachen … zum Weinen ist's, nutzlose Experimente zu machen. Wenn so etwas möglich wäre, liefen bald alle Großmütterchen mit den Köpfen von Zwanzigjährigen herum. Wobei zu überlegen wäre, wo man die Köpfe herbekommt.« Oh, Professor Semlakow war in Fahrt. Man kannte ihn, und man erwartete jetzt von ihm einen Vortrag, der reizvoller war als eine Aufführung des grusinischen Balletts in der Paliaschwili-Oper.
»Aber hier, Genossen«, rief Professor Semlakow, drückte auf einen Knopf, das Licht erlosch und auf einer großen Leinwand erschien ein buntes Bild; ein Mann in einem Krankenhausbett, den Kopf verbunden, die Brust umwickelt wie eine Mumie, »hier haben wir die Möglichkeit, Reales zu leisten. Ich zeige Ihnen vier Verletzte, an denen wir die sowjetische ärztliche Kunst demonstrieren können: Zwei Männer und zwei Frauen, bei denen wir durch Transplantationen und Korrekturoperationen die zerstörte Natur wiederherstellen können.«
Dann kamen die Bilder, schonungslos die Verwundungen zeigend, verbrannte Körperstellen, zerfetzte Gliedmaßen und ein ehemals schönes Mädchengesicht, das durch eine klaffende Wunde quer durch das Gesicht völlig entstellt war. Irene Heidfeld, die zweite Stewardeß, war es, und durch die Versammlung ging ein mitleidiges Raunen. Auch Paul Andresen wurde gezeigt: seine Kniescheibe war zertrümmert. Professor Semlakow erklärte, daß man die Splitter herausnehmen und die Knochenscheibe durch eine Schnappsehne ersetzen wolle.
Wenn auch die Vertreter der Behörden wenig von dem verstanden, was da medizinisch auf sie an Worten herabregnete – die Bilder überzeugten. Man gab die vier Verletzten als ›nicht transportfähig‹ nicht frei, und Professor Semlakow machte sich daran, mit Hilfe eines Filmapparates, der alles aufnahm, für die Nachwelt zu beweisen, daß die Sowjetunion nicht nur das größte Agrarland der Erde, sondern auch im Besitz der besten Chirurgen war.
So kam es, daß Paul Andresen in Tiflis blieb, während man das Flugzeugunglück vergaß, der Alltag alle Erinnerungen an diese Nacht niederwalzte und nur im Grusinischen Krankenhaus Nr. I noch von den ›Deutschen‹ gesprochen wurde, den Propaganda-Patienten des Professors Semlakow.
Nach zehn Tagen Bettruhe durfte Andresen aufstehen, humpelte an zwei Krücken durch die langen Korridore und durch den Garten. Er besuchte Irene Heidfeld, zu der er sagte, sie sähe aus wie eine Maharani, der Turban stände ihr gut. Und Irene Heidfeld lächelte dankbar, denn man hatte ihr bisher jeden Spiegel vorenthalten, und sie wußte nicht, wie schrecklich ihr Gesicht entstellt war. Dann ging er weiter zu Werner Pohlmann, den man zuerst tot gemeldet und auch zu den anderen Toten gelegt hatte. Einem Milizionär erst fiel auf, daß der ›Tote‹ sich auf die Seite gedreht hatte, denn er konnte sich genau erinnern, ihn auf den Rücken gelegt zu haben. So entdeckte man, daß Pohlmann noch lebte, aber welch ein Leben war es! Sein ganzer Rücken war verbrannt. Mit Kreislaufspritzen und künstlicher Beatmung hielt man ihn am Leben. Er war der Glanzfall des Professors Semlakow. »Noch nie ist es gelungen, einen Menschen mit solchen Verbrennungen dritten
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