Begegnungen (Das Kleeblatt)
hatte eine Tochter.
Keine weiße Tochter.
Eiskalte Finger krallten sich um ihr Herz. Wie ein verschrecktes Höhlentier verkroch sie sich in die dunkelste Ecke ihrer Kammer. Ihr war nicht bewusst, dass sie einen halben Tag lang regungslos auf dem Boden gehockt hatte, die Stirn auf die Knie gelegt, die Ohren mit beiden Händen zugedrückt, um die höhnenden Stimmen der anderen nicht mehr hören zu müssen. Irgendwann begann sie sich mit der Kraft ihrer angestauten Verzweiflung an den einzigen Rettungsanker zu klammern, den sie finden konnte: Alain! Wer sonst sollte …
Panik stieg in ihr auf. Sie wollte schreien und ihrer Angst Luft machen , obwohl sie wusste, dass sie hier, unter diesen Menschen, kein Verständnis finden würde.
Es konnte bloß Alain sein, versuchte sie sich einzureden. Ganz sicher. Sie hatte schon seit Jahren damit gerechnet, dass er sie eines Tages finden würde. Was ihr seit dem überstürzten Aufbruch aus Paris schlaflose Nächte bereitet hatte, wünschte sie sich in diesem Moment mit der ganzen Kraft ihres verzweifelten Herzens. Sie wollte sich nicht vorstellen, es könnten vielleicht dieselben Männer gewesen sein, die sie regelmäßig aufsuchten.
Nein! An so etwas durfte sie nicht denken! Obwohl sie ihre Tochter immer wieder vor Alain Germeaux gewarnt hatte, hoffte sie plötzlich, er möge der Fremde sein. Und es war ihr mit einem Mal vollkommen gleichgültig, was sein Auftauchen für sie bedeutete.
Sie konnte weder essen noch schlafen, bis sie das Krankenhaus erreichte. Sie hätte es nicht für möglich gehalten und doch sank ihr das Herz auf den letzten Metern noch tiefer.
In dieser Sekunde presste sie eine Hand vor den Mund, um ihre grenzenlose Erleichterung nicht durch eine unbedachte Lautäußerung zu verraten. Mit der anderen Hand klammerte sie sich am Türrahmen fest, als hätte sie Angst, ihre Beine könnten sie direkt vor dem Ziel nicht mehr tragen. Jetzt, nachdem sie ihre Tochter in der Obhut ihres Mannes gefunden hatte, fiel die Anspannung der letzten Stunden von ihr und machte einer gnadenlosen Schwäche und Müdigkeit Platz.
E inen kurzen Moment noch wollte sie diesen Anblick tief in sich aufnehmen. Sie brauchte bloß ein wenig Zeit zum Ausruhen, weil ihr Körper sich anfühlte, als würde er aus lauter Einzelteilen bestehen. Würde es je gelingen, ihn wieder zusammenzusetzen?
Sie nahm das vollendete Bild der Harmonie tief in sich auf und verdrängte alles, was ihr einfiel, weil es sich furchtbar anfühlte – Angst, Hunger, Einsamkeit. Das vor ihr liegende Bild dagegen strahlte eine beinahe unwirklich friedliche Ruhe aus. Vertrautheit und grenzenlose Liebe lagen wie eine unsichtbare Decke über den beiden Menschen, die ihr wichtiger als das eigene Leben waren. Nun musste sie nicht mehr um die Sicherheit von Cat bangen. Besser als in Alains Obhut würde sie es nirgends haben.
Jeder, der zufällig an dem Krankenzimmer vorüberkam, würde bei diesem Anblick auf ein idyllisches Familienleben schließen , sie allerdings wusste, wie trügerisch der Schein war. Der Raum war winzig, dennoch hell und einigermaßen sauber und gerade groß genug, um darin eine Liege und einen Stuhl unterzubringen. Sie wusste, dieses Krankenzimmer war gut zahlenden Patienten vorbehalten, und deswegen empfand sie nichts als Dankbarkeit für Alain. Sie kannte die Zustände in dem großen Schlafsaal und schüttelte sich unwillkürlich bei der Erinnerung daran.
Das Kleid des Mädchens hing akkurat zusammengelegt über der Stuhllehne, was der Frau ein scheues Lächeln entlockte. Das war zweifelsfrei Alains Handschrift. Neben der niedrigen Pritsche, mit dem Rücken zur Tür, kniete der Mann, dem das Haar bis auf die Schultern fiel. Seine ungewöhnlich schlanken Finger strichen zärtlich über das fiebrig erhitzte Gesicht des Mädchens. Die Kleine regte sich nicht, obwohl sie die Augen geöffnet hatte. Vielleicht war sie zu schwach. Vielleicht genoss sie die sanften Berührungen des Mannes. Ihr Atem ging flach und schnell.
S ie hörte Alains dunkle, melodische Stimme und schloss die Augen. Unvergessene Erinnerungen wurden in ihr wach und rüttelten an dem Panzer, der sich während der letzten Jahre um ihr Herz gelegt hatte. Leise sang er ein französisches Kinderlied. Er hatte eine wunderschöne klare Stimme, kraftvoll, gleichwohl sanft. Catherine quittierte es mit einem kaum merklichen Lächeln. Unvermittelt wanderte ihr Blick in Beates Richtung, als hätte sie die Anwesenheit ihrer Mutter
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