Begehrter Feind
Herz. Dann jedoch begriff sie, dass es Ewan war, der mit den Fäusten auf den Tisch trommelte. »Was hast du noch mitgebracht?«
Während Gisela wie benommen war, wandte Dominic sich dem Jungen zu und nahm ein kleineres tuchumwickeltes Päckchen auf. »Mal sehen … hier sind noch Kirschen, Datteln …«
»Datteln?«, rief Gisela aus. »Datteln sind aber sehr teuer!«
»… und Honig«, ergänzte Dominic und zog einen Tontopf aus dem Tuch.
Gisela sank auf die Bank. »O mein Gott! Was für ein Festmahl!«
»Würdig einer Lady«, sagte Dominic, »und ihres Ritters.«
So verzückt Gisela auch war, empfand sie zugleich eine bleierne Traurigkeit. Was für eine ritterliche Geste von Dominic, ihnen ein solches Mahl zu bringen! Und dennoch konnte sie nicht verdrängen, dass all das nur ein Spiel war, in dem sie vorgaben zu sein, was sie nicht waren. Gisela war keine Lady, Ewan kein Ritter und Dominic kein reicher Tuchhändler.
Wie viele Nächte hatte sie wach gelegen, dem ruhigen Atem ihres Sohnes gelauscht und sich gewünscht, sie könnte ihm ein besseres Leben bieten. Dass Dominic nun Köstlichkeiten auf ihren Tisch häufte, die weit über ihre Mittel hinausgingen …
»Dürfen wir jetzt essen?«, fragte Ewan.
Dominic lachte. »Nimm dir, was du magst!«
Beidhändig stürzte Ewan sich auf das Hühnchen, riss sich eine glänzende Keule ab und grub die Zähne ins weiche Fleisch. »Mmm!«
»Langsam!«, ermahnte Gisela ihn lachend, obwohl der Kleine sie vor lauter genüsslichem Seufzen und Stöhnen kaum hätte hören dürfen.
»Und was möchtest du?«, murmelte Dominic, der ihr das Hühnchen hinschob.
Gisela lief das Wasser im Mund zusammen, als sie sich ebenfalls für eine Keule entschied. Allein der Duft war eine Wohltat. Das letzte Mal, dass sie Hühnchen gegessen hatte, war auf einem Fest bei einem von Ryles Kaufmannsfreunden gewesen – im Januar.
Sie biss einen kleinen Happen ab, schloss die Augen und kaute ihn genüsslich.
»Gut?«, fragte Dominic.
»So etwas Köstliches habe ich seit Monaten nicht mehr gegessen!«
Als er sie nachdenklich anlächelte, senkte sie verlegen den Blick auf ihr Hühnchen. Solche Mahlzeiten musste sie ihrem Sohn und sich verwehren, um genug für die Reise nach Norden zu sparen.
Aus gutem Grund also
, erinnerte ihr Gewissen sie.
Und umso mehr Grund, es jetzt zu genießen!
Plötzlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und machte sich mit herzhaftem Appetit über ihre Hühnchenkeule her, die wunderbar saftig war. »Mmm. Das schmeckt herrlich!«
»Mama, probier mal die Datteln!« Ewan schmatzte laut. »Und die Wurstpastete!«
Er hatte noch einmal in sein Hühnchen gebissen, in eine kleine Pastete und griff nun nach einer weiteren Dattel. Um seinen Mund herum war alles verschmiert, was er bisher gekostet hatte.
Lachend rieb Gisela sich das Kinn.
Eine Wange noch von einer Dattel gewölbt, rief Ewan: »Dominic, erzähl die Geschichte!«
»Aber Knöpfchen, vielleicht möchte Dominic auch erst etwas essen.«
»Ist schon gut«, winkte Dominic ab und nahm sich etwas Brot. »Das gemeinsame Essen eignet sich hervorragend für meine Geschichte. Habe ich dir gesagt, dass ich sie von meiner Mutter erzählt bekam? Das war meine Lieblingsgeschichte.« Seine Stimme wurde etwas sanfter. »Ich werde ihr immer dankbar sein, dass sie mir ihre Geschichten erzählte, und eines Tages erzähle ich sie meinen Kindern.«
Gisela schluckte, als sie Dominics traurigen Ausdruck bemerkte. Der Verlust seiner Mutter schmerzte ihn bis heute. Sie entsann sich, wie liebevoll er von seiner Mutter gesprochen hatte, die ihre furchtbare Krankheit so tapfer ertragen hatte. »Es tut mir leid, dass sie gestorben ist«, flüsterte Gisela.
»Ja, mir auch«, sagte er achselzuckend und fasste sich wieder. »Also, hier ist ihre Geschichte: Vor langer Zeit lebte einst eine sehr schöne Frau. Sie war groß und schmal und die Schönste im ganzen Land.«
»Wie meine Mama«, mummelte Ewan mit einem Mund voll Hühnchen.
Dominic nickte, bevor er sich am Kinn kratzte. »Leider fällt mir der Name der Frau nicht mehr ein. Ich muss mal überlegen …«
»Gisela!«, rief der Kleine.
Gisela errötete. »Nein, ich glaube nicht …«
Dominic schnippte mit den Fingern. »Sehr gut, Ewan. Ja, ihr Name
war
Gisela.«
Sie schnaubte verächtlich. »In deinem Märchen können Hähne wohl auch Silbermünzen legen?«
Dominic schluckte grinsend sein Brot hinunter. »Ihre Schönheit war so außergewöhnlich, dass die
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