Begehrter Feind
Zittern ließ ein wenig nach, und sie empfand einen Anflug von Stolz, als sie das Kleid betrachtete. Es mochte aus sehr einfacher Wolle sein, aber dafür würde es Jahre halten – im Gegensatz zu den albernen Moden, die mit jeder Saison wechselten.
Dominics Lady kleidete sich gewiss nach der neuesten Mode.
Hör auf, Gisela!
, schalt sie sich.
Geh lieber wieder hinein, und genieße die Zeit, die dir mit Dominic bleibt, bevor du mit Ewan nach Norden weiterziehst!
Sie strich sich das Haar nach hinten und wappnete sich, um Dominic wieder gegenüberzutreten. Plötzlich bemerkte sie, dass es im anderen Zimmer ganz still geworden war.
Als sie sich umdrehte, sah sie Dominic in der halboffenen Tür stehen, eine Schulter in den Rahmen gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Noch bevor ihre Blicke sich begegneten, wusste sie, dass er sie schon länger schweigend beobachtet hatte, während sie so tief in Gedanken gewesen war, dass sie ihn gar nicht hatte kommen hören.
Wie beschämend! Er hatte sie gesehen, als sie sich unbeobachtet glaubte. Womöglich hatte sie unabsichtlich ihr gefährlichstes Geheimnis preisgegeben.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
Sie rang sich ein Lächeln ab. »Selbstverständlich.«
»Und du sagst das nicht, um meine Gefühle nicht zu verletzen?« Er wirkte ein bisschen unsicher. »Falls du meine Geschichte nicht mochtest …«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ah! Dann bist du weggelaufen, weil sie der Wahrheit zu nahe kam?«
Obgleich er ungewöhnlich sanft sprach, hörte sie ihm an, wie sehr er mit seinen Gefühlen kämpfte. Ihr war, als würde er sie am liebsten in die Arme nehmen, als trüge er dieselben Kämpfe in seinem Innern aus wie sie.
»Dominic …«
»Keine Sorge, Ewan sitzt mit Sir Smug am Feuer und isst ein Vanilletörtchen.« Er kam näher und sah Gisela ernst an. »Du solltest wissen, dass du mir vertrauen kannst, Gisela«, sagte er, nahm sich das Lederband vom Hals und hielt es ihr hin. »
Das
sollte dir doch beweisen, wie wichtig du mir bist. Du bedeutest mir immer noch sehr viel.«
Sie fühlte sich unendlich hilflos und unglücklich.
»Erzähl mir, was mit dir geschehen ist! Ich will dir helfen«, flüsterte er mit rauher Stimme. »Lass mich dir helfen!«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Ihre Lippen begannen zu beben, und sie kniff sie zusammen. Wie sollte sie ihm erklären, dass sie ihre schrecklichen Geheimnisse bewahren musste, um sein Leben zu schützen? Er würde sie nicht verstehen. »Ich muss nach Ewan sehen.«
Als sie an Dominic vorbeigehen wollte, fing er sie mit einem Arm ab und zog sie an sich. Mit der Berührung kehrten wundervolle Erinnerungen zurück – an Freude, an Freiheit und an seine Liebe. Sein sauberer männlicher Duft erfüllte sie und drohte, ihre Entschlossenheit zu brechen.
Seine Lippen strichen über ihr Haar. »Erzähle es mir!«, bat er sie leise.
Ihr brach es beinahe das Herz, doch sie reckte das Kinn und sah ihn streng an. »Weil du mir auch immer noch viel bedeutest, kann ich es nicht«, erklärte sie, wobei ihre Stimme brüchig klang.
Er runzelte die Stirn.
Doch noch ehe er ein Wort sagen konnte, entwand sie sich ihm und eilte ins andere Zimmer zurück.
Dominic neigte den Kopf und murmelte einen Fluch vor sich hin.
Weil du mir auch immer noch viel bedeutest, kann ich es nicht
. Was meinte Gisela damit?
Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und blickte hinauf an die dunkle Zimmerdecke. Seine eine Hand spürte noch den Stoff ihres Kleides, als er sie an sich gedrückt hatte. Gisela fühlte sich so lebendig an wie das Sonnenlicht.
Ein Stöhnen entfuhr seiner Kehle. Seine Wünsche und sein Verlangen fochten mit seinem Pflichtgefühl gegenüber dem König und Herrn, das sein Leben bestimmte, seit er in den Ritterstand hatte aufsteigen wollen. Zugleich verhöhnten ihn die Einsamkeit und das Misstrauen, die mit diesem Stand einhergingen, und nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob dieses Leben die Opfer wert war, die er dafür gebracht hatte.
Vor wenigen Tagen noch hatte er nicht gezögert, Geoffreys Auftrag anzunehmen, die Diebe zu jagen und sie ihrer Strafe zuzuführen. Heute jedoch fühlte er sich weit mehr verpflichtet, Giselas Dämonen zu jagen und ihr die Angst zu nehmen, die sie peinigte.
Vor allem aber wollte er sie wieder für sich haben.
Jahre zuvor hatte er fest geglaubt, dass Ritterstand, Ehre und Pflicht der größte Lohn für einen Krieger waren. Bereitwillig hatte er alles zurückgelassen, was er
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