Begehrter Feind
der Fluss vor ihnen auftauchte. Diese malerische Stelle hatte er entdeckt, als er das Ufer nach Hinweisen auf die gestohlene Seide abgewandert war. Umso passender, dass sein verwundetes Herz ihn nun wieder hierherkommen ließ.
»Würdest du mir bitte sagen, wohin wir gehen?«, fragte Gisela, die bei allem Trotz sehr unsicher klang.
»Dorthin.« Seitlich von der Straße verlief eine Steinmauer, ein Überbleibsel aus den Zeiten der römischen Eroberer. Sie wies etwas weiter vorn eine klaffende Lücke auf. Wahrscheinlich stammte sie von einem Fuhrwerk, das außer Kontrolle geraten und in die Mauer gekracht war. Steinbrocken lagen zwischen den Wildblumen und Gräsern, die zu beiden Seiten der Mauer wuchsen, als wollten sich die Steine selbst wieder in die Erde graben, zurück in vertraute Gefilde, ehe jemand sie erneut zur Mauer aufschichtete.
Dominic kletterte durch die Öffnung auf die Wiese, die sich bis hinunter zum Fluss erstreckte. Dann drehte er sich zu Gisela um und reichte ihr die Hand, um ihr zu helfen. Sie blickte mit einer Mischung aus Sehnsucht und bockiger Entschlossenheit auf seine Finger, bevor sie ihre schmalen Hände zu beiden Seiten an der Mauer abstützte und allein hindurchstieg.
Es versetzte Dominic einen Stich, dass sie ihm nicht gestattete, ihr zu helfen, doch er machte wortlos auf dem Absatz kehrt und ging voraus auf die Wiese. Die tiefen Schatten, die wie ein graues Tuch über den Gräsern und Blumen lagen, wurden nur hier und da von Flecken verblassenden Sonnenlichts erhellt.
Seine schweren Stiefel brachten das Wiesengrün zum Rascheln und scheuchten alles mögliche Getier auf – keine bunten Schmetterlinge oder summenden Hummeln, sondern kleine surrende Insekten.
Hinter ihm strich das Gras flüsternd über Giselas Umhangsaum. Vor Jahren war sie ihm genauso gefolgt, langsam und ein wenig scheu, aber mit einem Lächeln so strahlend wie die Frühlingssonne. Jetzt hingegen …
Er blickte sich zu ihr um. Nachdenklich sah sie nach vorn zum Fluss, zu der Holzbrücke ein Stück weiter sowie den Bäumen und Cottages auf der anderen Seite. Sie rieb sich die Arme, als wäre ihr kalt.
»Zu dem Baum dort. Da sieht man uns von der Straße aus nicht.« Dominic zeigte auf eine alte Weide, die in das Orange des Sonnenuntergangs gehüllt war.
Stumm folgte sie ihm unter die breiten herabhängenden Äste. Dann blieb sie stehen und sah hinunter auf das Gewirr von Wurzeln. Glaubte sie, die könnten ihr eine Lösung für ihr Dilemma verraten?
Nun war der Moment gekommen – der Moment, in dem er die Antworten auf seine Fragen bekam. Was er ahnte, bereitete ihm Bauchschmerzen.
Er wartete, bis sie ihn ansah, dann schob er seinen Ärmel hoch, so dass sie den Seidenstreifen sehen konnte, den er an sich genommen hatte. Die Ränder waren nicht ausgefranst, was bedeutete, dass der Streifen nicht von einem Stoffstück abgerissen, sondern fein säuberlich abgeschnitten worden war. Einzig eine gut geschliffene Schere hinterließ solch eine saubere Kante.
»Wie kommt Ewan zu dieser blauen Seide, Gisela?«
»Ich vermute, er hat … sie aufgehoben.«
»Er sagte, du hast sie ihm gegeben.«
Nervös schüttelte sie den Kopf. »Habe ich nicht. Er muss sie aus Schnittresten herausgesammelt haben, die ich zusammengefegt hatte. Ich habe es gar nicht bemerkt.« Wie sie aussah, plagten sie Selbstvorwürfe. »Ich hätte es merken müssen, hätte mir denken müssen, dass er sich etwas von dem Stoff für sein Schwert nehmen würde.«
»Du weißt also, wo die gestohlene Seide ist.«
Nach längerem Zögern nickte sie. »Einiges davon.«
»Sie ist in der Nähe deiner Schneiderei versteckt.«
»Unter den Dielen meines Geschäfts.«
»Gütiger!« Kein Wunder, dass sich die Bretter teils merkwürdig angehört hatten! Nur hatte Dominic gedacht, es läge an der dürftigen Bauweise des Hauses und daran, dass es sehr alt war.
»Als er mir die Ballen gab, sagte er mir, dass ich sie verstecken muss, damit sie vor Dieben geschützt sind. Und weil er die Einbrüche in letzter Zeit erwähnte, dachte ich mir nichts dabei.«
»Er?«, wiederholte Dominic. »Meinst du Crenardieu?«
»Ja.«
Französische Schlange!
»Wie hast du ihn kennengelernt?«
Sie faltete die Hände, doch ihre Finger bewegten sich weiter unruhig. »Eines Morgens kam er in meinen Laden. Er sagte, er hätte von meiner guten Arbeit gehört, und bat mich, einige Kleider für ihn zu nähen. Ich sagte zu, denn ich hatte ja keinen Grund, abzulehnen. Und dann, eines
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