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Beginenfeuer

Beginenfeuer

Titel: Beginenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Christen
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jetzt. Sie wollte Antworten auf die zahllosen Fragen, die in ihr warteten.
    Renard machte die Rolle des Beschützers offensichtlich Vergnügen.
    »Komm, ich zeig dir, wo der König wohnt. Sein Palast beginnt kaum einen Steinwurf weit von hier.«
    »Ich will erst die Kirche sehen.«
    »Aus Neugier oder aus Frömmigkeit?«
    Ysées neuer Freund legte kameradschaftlich den Arm um ihre Schultern. Sie zuckte unter der unerwarteten Berührung zusammen und vergaß zu antworten. Es bedurfte ihrer ganzen Selbstkontrolle, sich nicht gewaltsam zu befreien. Sie musste sich mit aller Macht sagen, dass sie ein Mann war und die Berührung eines Mannes in einem solchen Fall nichts mit den Schrecken der Vergangenheit zu tun hatte. Renard bemerkte ihr Zucken. »Du musst keine Angst bei mir haben. Ich gehör nicht zu jenen, die sich an Jünglingen vergreifen. Mir sind die Mädchen und Frauen lieber. Du kannst unbesorgt sein, ich schwör es dir bei der Heiligen Jungfrau, der diese Kirche gewidmet wurde. Ein wahres Wunderwerk.« Ysée entspannte sich und verbot sich die Frage, was Renard gemeint hatte. Eine innere Stimme sagte ihr, dass sie es nicht wissen wollte. Sie konzentrierte sich lieber auf seine Erklärungen. »Im letzten Jahrhundert hat Maurice de Sully den Bau in Auftrag gegeben, und noch immer wird daran gearbeitet. Alle Pariser Handwerker haben ihren Teil dazu beigetragen. Maurer, Zimmerleute, Steinmetze, Schmiede, Glaswerker, Bildhauer und Baumeister haben ihr Bestes gegeben, um die Pläne des Domherrn zu verwirklichen.«
    In stummem Staunen folgte Ysée dem Fuchs. Das mächtige Kirchenschiff, dessen Strebepfeiler ein Gewölbe stützten, für ihre Augen so hoch wie der Himmel, verschlug ihr den Atem. Handwerkerlärm tönte aus den Seitenkapellen und trübte die Feierlichkeit des ersten Eindrucks, aber nicht die Botschaft von göttlicher Erhabenheit und Größe. Es schien ihr, als könnte man alle Gotteshäuser Brügges unschwer in dieser einen riesigen Kathedrale unterbringen.
    »Wahrlich eine beeindruckende Demonstration der Macht und Größe unserer Mutter Kirche, nicht wahr? Und das in Paris«, vernahm sie Renards Worte und wunderte sich über den seltsamen Unterton.
    Spottete er? Ihre Augen wanderten nach vorne zum großen Chor, der so weit entfernt war, dass sie kaum die Einzelheiten des Hochaltars ausmachen konnte. Erst jetzt entdeckte sie auch die Menschen, die den Dom füllten. Nicht alle waren gekommen, um zu beten. Sie entdeckte Männer im Pilgergewand, die Kerzen und gesegnete Amulette verkauften. Frauen, die tuschelnd die haubenbedeckten Köpfe zusammensteckten, und Bettler, die sich mit ausgestreckter, offener Hand zwischen allen hindurchdrängelten. Immer auf der Flucht vor den Mönchen und Priestern, die sie nach draußen jagten, sobald sie ihrer habhaft wurden.
    »Willst du die Waffen und die Rüstung sehen, die unser König vor sechs Jahren der Jungfrau Maria geweiht hat, weil er wieder eine dieser unvermeidbaren Schlachten gegen die Flamen und die Engländer gewonnen hatte?«
    Renard deutete zu einer der vorderen Seitenkapellen, als sie plötzlich von einer Gruppe junger Männer umringt wurden, die völlig unverhofft auftauchte und sie trotz des heiligen Ortes lautstark und ungestüm begrüßte.
    Alle trugen ein ähnlich abgewetztes dunkles Wams wie der Fuchs, schienen im gleichen Alter und warfen mit Scherzen und Bemerkungen um sich, die Ysée nicht verstand, denn sie sprachen ein schnelles, abgehacktes Latein. Zumindest hielt sie die vielen Worte für Scherze, denn sie riefen Grinsen und Gelächter hervor.
    Renard legte einen Arm um ihre Schultern. »Hört auf«, befahl er in normalem Französisch mit einer Autorität über die Meute, die sie verblüffte. »Ihr erschreckt meinen jungen Freund. Es ist reines Glück, dass euer dummes Geschwätz an seinem Ohr vorbeifliegt.«
    »Schon wieder ein Schützling, Renard?« Ein staksiger Kerl, mit Haaren wie Stroh und einem breiten, flachen Gesicht, in dem eine dicke Nase die Blicke auf sich zog, baute sich vor Ysée auf. Er stank betäubend nach Schweiß, und die Dunstwolken aus seinem Mund ließen Ysée erschrocken den Atem anhalten.
    »Wo hast du das magere Küken nur aufgetrieben? Es weiß ja noch nicht einmal, ob es Hahn oder Henne werden will.« Er lachte selbst am meisten über seinen Scherz, und Ysée hoffte inständig, dass die Staubschicht auf ihren Wangen die aufsteigende Röte verbarg.
    »Aber es weiß immerhin, dass sich ein Benehmen wie das Eure im

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