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Beginenfeuer

Beginenfeuer

Titel: Beginenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Christen
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Beherrschung bemühte.
    »Hab ich ihm Grund gegeben, meinen Anstand zu bezweifeln?«, rief sie dennoch empört. »Ich habe nicht darum gebeten, mich als Patenkind seiner Frau Mutter auszugeben.«
    »Was hätte er tun sollen, nachdem er seinem Bruder versprochen hat, für dich zu sorgen? Wie willst du leben? Willst du vor den Kirchentüren betteln oder als Landstreicherin durch das Königreich ziehen? Niemand nimmt eine Fremde bei sich auf, die keinen ehrenwerten Leumund besitzt und ihre Familie nicht benennen kann. Sei froh, dass er dir den Schutz seines Hauses und seines Namens gibt. Ohne ihn wärst du verloren.« Der Waffenmeister sprach die Wahrheit, aber das besänftigte Ysée keineswegs.
    Warum war sie kein Vogel, der einfach seine Flügel ausbreiten und über die Mauer und den Fluss fliegen konnte? Warum war sie kein Mann, der sich überall frei bewegen konnte, ohne Aufsehen zu erregen? Ein Mann?
    Ein Gedanke ging ihr, wie ein Irrlicht tanzend, durch den Kopf und nahm augenblicklich Formen an. Hatte sie nicht schon einmal die Rolle des Knaben gespielt, um keinen Verdacht zu erregen? Sogar auf Anraten des Seigneurs? »Die Menschen sehen nur, was sie sehen wollen«, hatte er jeden Einwand zur Seite geschoben, und die Ereignisse der Reise gaben ihm Recht. Wer nahm schon an, dass sich unter den dicken Schichten winterlicher Knabenkleidung ein Mädchen versteckte? »Was ist los mit dir?«
    Jean Vernier spürte, dass eine Veränderung in ihr vorging. »Nichts.« Ysée wich seinem Blick aus. »Ich gehorche, wie er es gefordert hat.«
    Der Waffenmeister gab sich damit zufrieden. Ysée griff zur Spindel, doch in ihrem Kopf war ein Plan gereift. Das Gebet zur Non in der dritten Nachmittagsstunde erlöste sie. Jean war daran gewöhnt, dass sie danach in ihrer Kammer blieb, um bis zur Abendmahlzeit zu beten.
    Sie schlug den Deckel der Truhe zurück. Unter den wenigen schlichten Übergewändern und Unterkleidern, die sie von eigener Hand gefertigt hatte, fand sie, was sie suchte. Das Knabenkostüm des Pagen Yvo. Gesäubert, gelüftet und ordentlich zusammengelegt, wie sie es von ihrer Ziehmutter gelernt hatte. Der nächste Griff galt der Haube, die ihre radikal gekürzten Haare verbarg. Obwohl ein wenig nachgewachsen, entsprachen sie noch immer der Haartracht eines jungen Mannes von Stand. Ein kaum zu bändigender Wirrwarr aus hellsten Locken kringelte sich ihr um den Kopf. Mit ein wenig Staub, der die Silbertönung dämpfte und vielleicht auch die Zartheit ihrer Wangen verbarg, musste die Täuschung möglich sein. Je schmutziger ein Knabe war, desto weniger wurde er beachtet. Sie nahm sich die Freiheit als Knabe, die ihr als Frau verweigert wurde. Da sie keine Menschenseele in Paris kannte, würde auch sie niemand erkennen. Es galt nur, das Haus ungesehen zu verlassen und ebenso verstohlen wieder zurückzukommen, ehe Jean ihre Abwesenheit entdeckte.
    Mut, Ysée!, sagte sie sich und sah aus dem Fenster, ihrer Freiheit entgegen.
    Der halbwüchsige Knirps, der im klaren Sonnenschein des Märztages die steinernen Abbilder der achtundzwanzig Könige von Israel und Judäa bewunderte, die über den drei Portalen der großen Kathedrale Unserer Lieben Frau eine Reihe bildeten, ging im Trubel des Domplatzes völlig unter. Er unterschied sich in nichts von den übrigen Gaffern, Handwerkern, Bürgern, Gläubigen, Händlern und Neugierigen, die zu jeder Zeit des Tages auf die Cité strömten und sich üblicherweise auf dem Vorplatz von Notre-Dame sammelten, ehe sie ihren Geschäften nachgingen. Immer gab es unter ihnen staunende Reisende, die, von der schieren Größe der Kathedrale förmlich erschlagen, nur noch im Weg standen und starrten. Ysées Nacken wurde steif. Gestoßen und geschubst behauptete sie eigensinnig ihren Platz vor der dem steingewordenen Wunder. Die mächtige Fensterrosette über den Königen, der Bilderreigen der Portalbögen, deren Goldgrund in der Sonne leuchtete, als gelte es, die Menschen mit himmlischer Pracht zu blenden, alles gemeinsam brachte sie mit offenen Augen zum Träumen.
    »Sie werden dich platt treten, wenn du dir keinen anderen Platz suchst, Bürschchen.«
    Ein freundschaftlicher Rippenstoß begleitete die Warnung. Ysée fuhr erschrocken zusammen. »Gemach!«
    Dem Stoß folgte ein Schulterklopfen, bei dem Ysées Zähne aufeinander schlugen.
    Als sie wieder klar sah, blickte sie in das sommersprossige Gesicht eines jungen Mannes, dem ein Schopf rostroter Haare und schief stehende Schneidezähne

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