Beginenfeuer
verblüffende Ähnlichkeit mit einem Fuchs verliehen. »Ich beiße nicht«, grinste er.
Ysée blinzelte und versuchte wie ein Knabe und nicht wie ein erschrockenes Mädchen zu reagieren. »Was willst du von mir?«
»Du bist neu in der Stadt?« Der Rothaarige hatte das Staunen und die Angst in den grünen Augen gelesen. »Bist du ein Scholar?«
Ysée schüttelte stumm den Kopf und sprang im letzten Moment einer Gruppe von Steinmetzen aus dem Weg, die eine Werkzeugkiste schleppten.
»Aber einen Namen hast du doch wohl? Mich nennen meine Freunde Renard, den Fuchs, wenngleich meine Eltern mich Theodore genannt haben. Theodore Bruant, Scholar und Studiosus der Rechte an der Universität von Paris, wenn’s recht ist.«
Das unbeschwerte Geplauder des jungen Studenten gab Ysée Zeit, sich wieder zu fangen.
»Yvo heiß ich«, sagte sie mit möglichst tiefer Stimme. »Und wo kommst du her, Freund Yvo?«
»Aus…« Ysée gab sich einen Ruck. »Aus dem Burgundischen.«
»Und was tust du in der Stadt des Königs, wenn du nicht gerade seine neue Kathedrale anstarrst und seinen Bürgern im Wege stehst?«
»Knappe bin ich.« Ysée blieb bei der Geschichte, die Mathieu für ihre Flucht aus Brügge ersonnen hatte. »Aber in Paris hab ich wenig zu tun. Mein Seigneur ist bei Hofe, und mich braucht er dort nicht.«
»Hängt dir der Dreck der heimatlichen Schweineställe noch zu sehr an den Hacken, hm?« Der Fuchs nickte verständnisvoll. »Ist nicht einfach, plötzlich in Paris zu leben. Ich weiß, wie dir zumute ist. Als ich aus Meile kam, habe ich mich ganz ähnlich gefühlt. Ziemlich grün hinter den Ohren und erschlagen vom Lärm und den vielen Menschen.«
Ein neuerlicher Schulterschlag zwang Ysée fast in die Knie, aber dieses Mal begriff sie ihn als Freundschaftsgeste. Sie straffte den Rücken und räusperte sich. »Bist du schon lange in der Stadt?«
»Das zweite Jahr«, nickte der Student. »Ich habe die Ehre, am Kollegium von Navarra zu studieren, das unsere verstorbene Königin im Jahre 1304 gründen ließ.«
Ysée hatte noch nie von diesem Kollegium gehört, und sie lauschte mit zunehmendem Interesse, während Renard in höchsten Tönen schwärmte.
»Der König sucht sich seine Berater und Minister unter den klügsten Köpfen der Universität von Paris aus. In naher Zukunft werden die Pariser nicht mehr vor Guillaume von Nogaret buckeln, sondern vor dem Fuchs Theodore Bruant, du wirst es erleben. Ich werde der Erste aller Legisten sein.«
»Legisten?«, warf Ysée fragend ein. »Was ist ein Legist?«
»Ein Graduierter des römischen Rechts, Kleiner. Mit meinem Studium der Leges, der Rechte, erwerbe ich mir die Fähigkeiten, die ich in den Diensten des Königs benötige. Nogaret hat ebenfalls so begonnen. Er hat in Montpellier studiert, dort war er auch Doktor der Rechte, ehe er Oberrichter in Beaucaire und schließlich in den Rat des Königs berufen wurde. Unter seiner Leitung hat der König die Verwaltung des Reiches reformiert.«
Man sah dem Fuchs an, dass er auf eine ebensolche Karriere hoffte. Ysée begriff seine Sehnsucht nach Anerkennung und Bedeutung sehr gut.
»Was treibst du dich auf dem Domplatz herum?«, wollte Renard jetzt wissen. »Was hast du vor?«
»Die Stadt ansehen. Aber da sind so viele Menschen und so viele Wege in alle Richtungen…«
»Was du brauchst, ist ein Führer, Freund Yvo. Einen Beschützer. Ein Grünschnabel aus der Provinz gerät schnell in die falschen Gassen.«
Das hatte Ysée bereits festgestellt. Sie sah den Fuchs grinsen. Seine schiefen Zähne bildeten eine Reihe schräger gelber Palisaden. »Komm mit mir«, bot er an.
»Warum willst du das tun?«
»Du erinnerst mich an meinen kleinen Bruder. Der war auch ein so ahnungsloser Hänfling, als ich ihn verließ. Ein Bürschchen mit großen Augen und einer neugierigen Nase. Ich wollte, ich hätte ihn mitnehmen können. Wer weiß, was in Meile aus ihm wird. Womöglich noch ein Jakobspilger, die Fremde hat ihn schon immer gelockt.«
»Warum fürchtest du das?«
»Meile ist nach Poitiers die zweite Station auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Du weißt wohl nicht viel von der Welt, Kleiner?«
Ysée zuckte mit den Schultern. In den lockeren Knabenkleidern, den mit Stroh ausgestopften, zu großen Schnürschuhen und dem Wams, das wie ein Sack über ihrer Gestalt hing, fühlte sie sich auf eigenartige Weise frei. Noch hatte sie nicht entschieden, was sie mit dieser Freiheit anfangen wollte. Eines wusste sie jedoch schon
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