Beginenfeuer
steht dagegen?«
»Der Herr wäre nicht damit einverstanden. Es ist wider die guten Sitten, wenn eine ehrbare Jungfer allein über die Gassen spaziert.«
»Ich bin…«
Keine ehrbare Jungfer, hatte Ysée sagen wollen, aber sie brachte es nicht über die Lippen. »Begleitet mich«, erwiderte sie stattdessen. »Es ist Sache des Herrn, das zu erlauben.«
»Wie kann er das tun, wenn er nie da ist?« Ysée entdeckte ein unerwartetes Vergnügen am Widerspruch. Die Zeiten des stummen Gehorsams sollten vorbei sein. Sie hatten ihr ohnehin nur Verzweiflung eingebracht. »Kann es sein, dass von mir die Rede ist?« Ysée fuhr mit einem erschrockenen Ausruf herum. Der Seigneur mit dem Samtwams und dem Federbarett war Mathieu, der als Ritter ihr Reisebegleiter gewesen war. Er trug das Gewand eines Höflings.
Er kam vollends ins Haus und schloss die Tür hinter sich. »Was gibt es?«
Scheu wich sie vor ihm zurück. Dann hob sie den Kopf und erwiderte den Blick der kühlen grauen Augen in trotzigem Stolz. Sein offensichtlicher Gleichmut half ihr, sich zu fassen. Sie wusste, dass sie ihm Dankbarkeit schuldete. Jean Vernier spürte die unterschwellige Kampfansage. Er bemühte sich, die Situation zu entschärfen. »Sie will die Stadt ansehen«, sagte er. »Man kann’s ihr kaum verübeln, nach den langen Wochen im Haus.« Die Tatsache, dass der Waffenmeister zu Ysées Verteidigung antrat, entlockte Mathieu einen verblüfften Laut. So hatte das Mädchen also nicht gesäumt, den Alten auf ihre Seite zu bringen. Er betrachtete sie prüfend.
Ysées Haut war immer noch blass, aber nicht mehr von jener tödlichen Durchsichtigkeit wie zu Zeiten ihrer Krankheit. Die Züge hatten die mädchenhafte Weichheit verloren. Schmale Wangen betonten die feinen Jochbögen, und die hellen Brauen wölbten sich über großen, klaren Augen. Eine neue, anrührende Reife lag über ihrem Gesicht.
Wer war dieses Mädchen wirklich? Sein Bruder war ihm die Antwort schuldig geblieben.
Wie sie so vor ihm stand, bot sie eine neue Facette ihrer vielschichtigen Persönlichkeit. Kämpferisch schien sie, entschieden, ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Leicht gereizt suchte er nach einer Möglichkeit, Ysée zu beruhigen.
»Ich werde dich am Sonntag zur großen Messe in die Kathedrale führen. Bis dahin wirst du dich gedulden müssen.« Sein Waffenmeister und er hatten es sich auf der Reise angewöhnt, die als Page verkleidete Ysée zu duzen, und beide waren bei dieser Anrede geblieben, ohne dass Ysée dagegen protestiert hätte.
»Warum nicht jetzt?« Sie warf den Kopf in den Nacken und suchte seine Augen. »Die Sonne scheint, es ist ein wunderbarer Tag.«
»Ein Tag wozu? Um durch die Gassen zu streifen? Das wirst du gefälligst unterlassen. Dieses Haus grenzt an die Mauern des Hofes der Domherren von Notre-Dame. In ihrem Viertel herrschen Frömmigkeit und Anstand.«
»Wieso verletze ich den Anstand, wenn ich aus dem Haus gehe? Habt Ihr mir nicht gesagt, ich hätte die Freiheit, zu tun und zu lassen, was mir beliebt?«
Mit einem Male erinnerte sich Ysée wieder an die Dinge, die in ihrem Beisein besprochen worden waren. »Innerhalb der Grenzen, die dein neuer Stand dir auferlegt«, korrigierte Mathieu nüchtern. »Die Nachbarschaft hält dich für eine arme Verwandte von mir. Ein Patenkind meiner verstorbenen Mutter, dessen ich mich aus Mildtätigkeit angenommen habe. Du bist eine junge Witwe, die den Tod ihres Gemahls betrauert. Man wohnt auf der Cité so eng nebeneinander, dass ich erklären musste, woher du kommst, was du tust und weshalb es keine zweite Frau in diesem Hause gibt, die deinen Ruf beschützt.«
Ysée rang um Worte. Er hatte es bislang nicht für nötig erachtet, ihr das zu erklären.
»Wer gibt Euch das Recht, so über mich zu bestimmen?« Mathieu überging den Vorwurf. »Dankbarkeit und Gehorsam sind alles, was ich von dir erwarte. Enttäusche mich bitte nicht. Jean, auf ein Wort. Lass uns in die Stube nach oben gehen.«
Bis Ysée den Mund aufbrachte, waren beide Männer verschwunden. Sie ballte die Fäuste und wunderte sich selbst über den heißen Zorn, der sie durchflutete. Welche Überheblichkeit! Das war nicht der besorgte Mathieu, wie sie ihn auf der Reise und während ihrer Krankheit kennen gelernt hatte. »Bist du nun zufrieden, Mädchen?«
Nachdem Mathieu mit ihm gesprochen hatte, war der Waffenmeister zu Ysée zurückgekommen. Immerhin kontrollierte sie ihre heftigen Atemzüge, und er sah, dass sie sich um
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