Beginenfeuer
schien ihr der reinste Traum.
»Schlag die Augen nieder«, wies Alaina sie zurecht. »Es gehört sich nicht, dass du herumgaffst und deinen Schwestern Schande machst.«
Ysée dankte dem Himmel, dass sie wenigstens nur an ihrem Blick etwas auszusetzen hatte. Sie nahm den Korb mit den Kräutern, Salben und Binden, während die zweite Meisterin sich zum Gehen wandte. Sie versuchte sich dem Schritttempo Alainas anzupassen und sich weder Neugier noch Aufregung anmerken zu lassen. Dennoch flogen ihre Augen unter halb gesenkten Lidern weiter von einer Seite zur anderen, während sie die Weingartenstraße entlangschritten, die vom Weingartenplatz in die Stadt, zur Burg führte. Sicher lebte ein so angesehener Kaufmann wie Meister Cornelis am großen Markt, in der Nähe der Residenz der Grafen von Flandern und der Kathedrale vom Heiligen Blut.
Sie hatte gehört, dass es dort Häuser geben solle, größer als die Kirche der Beginen und das Kapitelhaus der Meisterin. Häuser ganz aus Stein und nicht aus Holz, Lehm und verputztem Fachwerk. Gebäude mit mehr als drei Stockwerken. Aber schon die bescheidenen Behausungen der städtischen Handwerker rund um die Liebfrauenkirche kamen ihr riesig vor. Und erst die Garküchen, die Weinschänken, die Läden und Werkstätten… Es war schwierig, den Kopf gesenkt zu halten. Die Bürger von Brügge schenkten den beiden Beginen wenig Aufmerksamkeit. Für sie waren die frommen Frauen mit den weißen Hauben und den dunklen Umhängen ein gewohnter Anblick. Dennoch kam es Ysée vor, als entdecke sie auch das eine oder andere feindliche Signal. Besonders bei Männern, deren blaue Hände sie als Färber auswiesen, und aus Häusern, die vom Geklapper der Webstühle widerhallten. In ihrem Nacken begann es zu kribbeln, und sie bemühte sich, im Vorbeigehen alles zu hören, wenn sie schon nicht alles betrachten durfte. »Die frommen Frauen des Königs…« Gelächter drang zu ihr herüber. »Die Motten, die er zwischen unsere Wolle gesetzt hat und im prinzlichen Beginenhof mästet.« Ysée runzelte die Stirn und wäre um ein Haar über eines der Schweine gestolpert, die im Straßenschmutz wühlten und dafür sorgten, dass die Abfälle auf Brügges Straßen sich in Grenzen hielten.
Natürlich hatte Alaina ihre Ungeschicklichkeit bemerkt. Sie reagierte mit einem strafenden Blick über die Schulter, und Ysée ahnte, dass sie bei ihrer Rückkehr Schwierigkeiten bekommen würde. Nur jetzt – jetzt wollte sie ihre Freiheit genießen.
Z WEITES K APITEL
Zweifel
M ATHIEU VON A NDRIEU
Kortrijk in Flandern im Oktober 1309
»Wir könnten Brügge bis zum Allerseelentag erreichen.«
»Wozu diese Eile?« Der Ritter mit dem wettergegerbten Gesicht und den schütteren, braunen Haaren setzte den Bierkrug heftiger auf den Tisch, als es nötig gewesen wäre. »Es gefällt mir nicht in dieser Stadt.«
Mathieu von Andrieu verzog den Mund. Er teilte die Gefühle seines Waffenmeisters Jean Vernier, der ihn auf dieser Reise begleitete. Kein Ritter des Königs von Frankreich mochte Kortrijk, schließlich erinnerte der Ort an eine verheerende Niederlage. Weit mehr als tausend Ritter und achtundsechzig Edelmänner aus den ersten Familien des Königreiches hatten dort, 1302, in der Schlacht der goldenen Sporen ihr Leben gelassen. Er hatte gemeinsam mit ihnen gekämpft, und die wulstige Narbe eines Lanzenstiches an seinem Oberschenkel sorgte dafür, dass er dies nie vergaß.
Man erzählte sich, dass die Flamen siebenhundert goldene Sporen auf dem Schlachtfeld eingesammelt hatten. Ein jedes Paar stand für einen getöteten französischen Ritter, und man verwahrte die makabren Andenken bis heute in der Kirche Unserer Lieben Frau zu Kortrijk. Die nächste Schlacht, nahe Mons-en-Pévèle, am 18. August 1304, endete zwar zugunsten des Königs von Frankreich, aber der Stolz des französischen Rittertums hatte von Kortrijk ebenfalls eine hässliche Narbe zurückbehalten.
Es kostete den Herrn der Grafschaft Flandern, Robert von Bethune, dennoch Jahre, seine rebellischen Städte dazu zu bewegen, den Frieden zu akzeptieren, den er mit König Philipp 1305 geschlossen hatte. Mit der Unterschrift auf dem Dokument hatte er sich die Freiheit erkauft, aber seiner Grafschaft drückende Lasten auferlegt. So sollten unter anderem Gent, Brügge, Ypern, Lille und Douai ihre Mauern schleifen, und falls sich Graf Robert jemals wieder mit einem Feind Frankreichs verbünden würde, fiele seine Grafschaft an Philipp IV.
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