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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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verloren. Wie lange war sie bereits eingesperrt? Sie bemerkte, dass sie keine Schuhe trug. Von zwei Männern der Liga eskortiert, wurde sie gezwungen, die Leiter hinabzusteigen. Sie war völlig erschöpft, und die Angst krampfte ihr den Magen zusammen. Sie hatten Arom abgestochen wie ein Tier, und ihr Mann war ein Verbrecher und würde ihr nicht zu Hilfe kommen. Übrigens wussten weder er noch sonst irgendjemand, wo sie war. Und Anuwat? Hatte ihn dasselbe Schicksal ereilt? Julien war irgendwo, doch in welchem Zustand? Sie war ganz auf sich selbst gestellt, außerstande, sich zu verteidigen.
    Sie brauchte ewig, um die Sprossen hinunterzuklettern, ihre Füße tasteten sich langsam vor. Die Augenbinde war fest und dick, und sie konnte nicht einmal sehen, ob es Tag oder Nacht war. Das Einzige, was sie wahrnahm, war die Feuchtigkeit, die ihr den Schweiß auf die Stirn trieb, den würzigen Geruch des Dschungels, die vielen Geräusche. Die Vegetation bildete einen Teppich unter ihren Füßen. Etwas stach in ihren Knöchel. Sie lief über Schilfblätter, stolperte, wollte sich mit vorgestreckten Händen festhalten, verletzte sich an Dornen. Ihre Finger krallten sich in den klebrigen Erdboden. Die Wächter rissen sie hoch, brüllten ihr etwas auf Thai zu und zwangen sie, schneller zu gehen.
    Plötzlich wurde die Vegetation unter ihren Füßen trockener und spärlicher, und ihre Füße berührten Holzbalken und Latten. Einer der Männer stieß sie vorwärts. Der Übergang war gerade breit genug für eine Person. Sie hielt sich zu beiden Seiten an dicken, horizontal gespannten Seilen fest und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Der Boden unter ihr schwankte. Eine Hängebrücke? Unter sich hörte sie das Tosen der Brandung. Ja, es war eine Hängebrücke. Aber sie war nicht sehr lang. Nach zehn Schritten hatte sie das Ende erreicht. Und wieder nahmen ihre beiden Wachhunde sie in die Mitte. Sie musste über Felsblöcke klettern, dann folgten Holzstufen. Das Meer war ganz nah. Man stieß sie vorwärts. Sie fiel in den Sand. Eine Welle leckte an ihren Füßen, das laue Meer umspielte ihre Knöchel. Dann ging es wieder aus dem Wasser heraus, offenbar auf eine Sandbank. Sie stieß mit den Zehen gegen spitze Steine. Als sie das Tempo verlangsamen wollte, trieben ihre Wachen sie gnadenlos weiter. Nun ging es lange bergab und dann wieder bergauf. Erneut Holz- und dann Steinstufen. Cyrille war völlig willenlos und hatte jeglichen Orientierungssinn verloren. Wohin bringen sie mich? Sie verscheuchte das Bild von Aroms gefoltertem Körper. Sie wusste, dass ihr Leben an einem seidenen Faden hing.
    *
    Klick klack, die Gartenschere schob sich durch die zarten Zweige eines Bonsai. Rama Supachai betrachtete die gleichmäßige Wölbung. Er stutzte einen weiteren Zweig. Sein Werk war noch nicht perfekt. Er besprühte das Bäumchen mit einer Mischung aus Wasser und Dünger und zog die feine Harke durch die Erde, um sie zu lockern.
    Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn aufhorchen. Zwei Männer der Liga führten eine weiße Frau mit verbundenen Augen herein und drückten sie auf eine leere Kiste.
    Einer der beiden Wächter nahm ihr die Augenbinde ab.
    Cyrille blinzelte, die Knie zusammengedrückt, die Arme vor das Gesicht gehoben, um etwaige Schläge abzuwehren.
    Nach und nach wurde ihr bewusst, dass sie sich mitten in einem ovalen Gewächshaus befand, umgeben von Dutzenden Bonsais in lasierten Töpfen. Durch die großen Glasscheiben sah man das grandiose Schauspiel der untergehenden Sonne und des Himmels, der sich zunehmend dunkelrot färbte. Weiter unten brachen sich an steilen Felsen die Wellen. Unter anderen Umständen hätte sie den Ausblick bewundert.
    Der über die Zwergbäume gebeugte Mann hob das längliche, glatte Gesicht. Über der schwarzen Hose trug er einen Arztkittel mit Maokragen.
    Mühelos erkannte Cyrille den Forscher aus dem Video. Zum ersten Mal seit langer Zeit keimte Hoffnung in ihr auf. Ihr Bewacher, der Koloss mit dem langen schwarzen Zopf, hatte also auf sie gehört und sie zu Pot Supachais Cousin Rama geführt. Immerhin etwas. Ein Glücksfall in dieser Verkettung katastrophaler Umstände, sagte sich Cyrille. Sie hatte nur einen Trumpf in der Hand. Sie hob den Kopf.
    *
    Wie eine Raubkatze glitt Julien zwischen den Felsen, Bäumen und Lianen hindurch. Er ließ die Baumhütten hinter sich und ging Richtung Meer. Dort hatte er die erste Kindergruppe gesehen und war ihr in gebührendem Abstand gefolgt. Es waren zwei

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