Begraben
erstarrte sie, und eine bittere Flüssigkeit stieg ihr in die Kehle. Es war ein Mann, der dort hing, man hatte ihn an den Knöcheln an einem Ast aufgehängt, die Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden.
Der Körper drehte sich um sich selbst. Plötzlich war das Gesicht des Gefolterten zu sehen, sein weißes Haar hing nach unten, und eine blaue Zunge ragte zwischen den Zähnen hervor. Ein Schrei der Verzweiflung stieg in Cyrille auf. Der Mann mit dem schwarzen Zopf hielt ihr ein Handy vors Gesicht.
»Erklär mir das.«
Auf dem Display des unbekannten Handys las Cyrille:
»Habe das Handy der Kleinen gefunden. Darauf sind GPS-Daten gespeichert: Ko Nang Yuan. Alarmieren Sie die Behörden. CB.«
Cyrille fühlte, wie ihr das Blut zu Kopf stieg. Es war die zweite SMS, die sie aus dem VGCD-Heim an Arom geschickt hatte. Arom war von der Liga gekidnappt worden. Die Bande hatte ihre beiden Nachrichten abgefangen, und so war die Falle zugeschnappt.
Der Mann zerrte Cyrille wieder in die Hütte und drückte sie auf den Stuhl. Jegliche Kraft war aus ihrem Körper gewichen.
»Welches Telefon meinst du?«
»Wir haben im Heim ein Handy gefunden«, brachte sie mit schwacher Stimme hervor. »Darauf waren GPS-Koordinaten gespeichert.«
»Wem gehört das Handy?«
Cyrille schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung.«
»Wo ist es?«
Cyrille stellte fest, dass es nicht mehr in ihrer Hosentasche war. Wenn man es nicht bei ihr gefunden hatte, musste sie es auf der Flucht irgendwo in der Plantage verloren haben.
»Ich weiß es nicht.«
Die Hand zielte auf ihren Kopf. Cyrilles Schädel implodierte förmlich. Ihr Blick flatterte, sie rang nach Luft. Sie empfand jedoch keinen Schmerz. Der Anblick der geschundenen Leiche hatte sie derart schockiert, dass ihr alles andere gleichgültig geworden war.
Eine einzige Frage bohrte in ihr. Sie hob die Augen zu dem Mann.
»Wo ist der junge Mann, der mich begleitet hat?«
Der Typ mit dem Zopf brummelte, ohne zu antworten.
»Sind Sie Pot Supachai?«
Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, seine schwarzen, dicht stehenden Augen funkelten eisig. Cyrille hielt seinem Blick stand.
»Was haben Sie mit uns vor? Wir wissen nichts. Wie ich Ihnen bereits sagte, bin ich Ärztin, und der junge Mann ist mein Patient.«
Der Mann mit dem Zopf überging ihre Bemerkung und rief auf Thailändisch nach einer Wache. Cyrille versuchte nachzudenken, aber sie war sich nur einer Sache sicher: Der Mann würde sie erst dann gehen lassen, wenn er herausgefunden hatte, wer Dok Mai befreit und die Koordinaten übermittelt hatte. Da sie keine andere Chance sah, setzte sie alles auf eine Karte.
»Wenn Rama Supachai in der Nähe ist, lassen Sie ihn wissen, dass ich die Frau von Benoît Blake, dem künftigen Nobelpreisträger, bin. Er kennt ihn … Sagen Sie ihm, es könnte für seine Forschung interessant sein.«
Der Koloss schaute sie an wie eine Kakerlake, die am Boden krabbelt. Ein anderer Mann in Drillichkleidung betrat die Hütte und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Der Koloss wandte sich ihr zu und sagte schroff:
»Du sagst uns, wo dieses Handy ist, oder wir legen dich um, basta.«
Die Tür schloss sich hinter den beiden.
Benommen wartete Cyrille mehrere Minuten, bis sich die Stimmen entfernt hatten. Langsam erhob sie sich von dem Stuhl, den Blick ins Leere gerichtet. Dann ging sie zur Tür und versuchte vergeblich, diese zu öffnen. Verzweifelt ließ sie sich an den Wandbrettern hinabgleiten, umschlang ihre Knie und begann zu weinen.
*
Julien Daumas lief in einer nach Fisch stinkenden Hütte auf und ab. Vor der Tür hielten zwei Männer Wache. Er sah sie durch die Luke, die ein paar Lichtstrahlen durchließen. Er ging die Länge der Hütte ab, dann die Breite. Er war äußerst nervös und rieb sich die Handgelenke. Jetzt fing es wieder an. Wo war Cyrille? Hatte man ihr etwas angetan? Ausgerechnet in dem Moment, da sie sich wiedergefunden hatten. Er wusste nicht, was man von ihnen wollte, hatte jedoch einen Plan. Er würde hier herauskommen und Cyrille ebenfalls.
45
16. Oktober, Ko Nang Yuan
Die Ratte Nummer 315, ein vierzehn Tage altes Männchen, trottete zum Wasserspender und saugte am Mundstück. Es war allein in dem kleinen Drahtverschlag, spürte und roch aber all die Artgenossen, die in den fünfzig aufeinandergestapelten Käfigen lebten. Das künstliche Licht im Raum brannte zwölf Stunden am Tag, um den Nacht-Tag-Zyklus nachzuahmen. Vor zwei Stunden hatte der »Tag-Modus« eingesetzt. Die
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