Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
Vom Netzwerk:
Tür zum Gehege öffnete sich, und die Nager gerieten in Aufruhr. Eine behandschuhte Hand näherte sich dem Käfig 315 und öffnete die kleine Klappe. Die Hand packte das Tier und setzte es in eine Pappschachtel, die auf einem gekachelten Tisch stand. Dort wurde das Rattenmännchen aus der Schachtel getrieben, auf ein Holzbrett gedrückt, und man stach es in den Rücken. Bis die Wirkung der Betäubung eingesetzt hatte, folgte der Mann allen Vorgaben seines Protokolls, legte der Ratte drei Elektroden an – zwei am Kopf, eine an der rechten Vorderpfote. Der Mann schob das betäubte Tier bis zu dem kleinen Gipslabyrinth, das er gebaut hatte. Er gab ihm erneut eine Spritze – diesmal, um es aufzuwecken. Das Rattenmännchen schreckte auf und hockte eine Weile wie erstarrt da, die Pfoten gelähmt vor Angst. Dann machte es einen Satz nach rechts. In den Gängen lagen einige Kugeln. Es schnupperte daran und setzte mit einem weiteren kühnen Sprung die Erforschung fort. Plötzlich ließ ein schriller Ton das Tier zusammenzucken. Im selben Augenblick bekam es einen heftigen Elektroschock in die Pfote verpasst. Die Blicke des Wissenschaftlers folgten dem Tier. Er wiederholte den Vorgang mehrmals und beobachtete die verschreckte Ratte.
    Der Mann richtete sich auf und notierte die Ergebnisse des Routineversuchs, mit dem entsprechenden Datum versehen, in einem Spiralheft. Es dauerte zwanzig Minuten, bis das Rattenmännchen aus seiner Benommenheit erwachte. Der Forscher betätigte erneut die Sirene. Und wie er vermutet hatte, erstarrte das Nagetier in Erwartung des nächsten Elektroschocks. Auf diese Weise richtete Rama Supachai eine gewisse Anzahl von Tieren ab, um sie zu Beispielen der induzierten »schlechten Erinnerungen« zu machen. Danach waren diese Ratten ideale Kandidaten, um neue Behandlungsformen zu testen.
    Er war allein in seinem Labor, das am Rande der Klippen auf einer der drei einsamen Inseln Ko Nang Yuang mitten im Golf von Thailand stand. Das winzige Archipel gehörte seit jeher seiner Adoptivfamilie. Die drei spitzen Felsen waren auf natürliche Weise durch eine Sandbank verbunden, die sich y-förmig im klaren Wasser abzeichnete. Auf dem südlichsten Felsen befanden sich sein Haus, sein Labor und der Operationstrakt. Die Insel im Norden war seinem Cousin Pot vorbehalten, der dort Baumhäuser für seine Männer und einfache Hütten für die »Besucher« errichtet hatte. Die östliche Insel war unbewohnt, nichts als Gestein und dichter Dschungel.
    Rama Supachai liebte die Abgeschiedenheit, die er der besonderen geographischen Lage verdankte. An der Gesellschaft seiner Kollegen war ihm nicht gelegen. Der in einem Elendsviertel von Thailand geborene Neurobiologe war von den Supachai, einer reichen Familie aus Phuket, adoptiert worden, deren Angehörige über ganz Südostasien verteilt waren. Seine Adoptiveltern, die keine eigenen Kinder bekommen konnten, hatten ihn nach dem Tod seiner leiblichen Mutter aufgenommen und ihm die Chance gegeben, das Abitur zu machen, in Bangkok Medizin zu studieren und dann in den USA zu promovieren.
    Supachai gab einen Löffel schwarzes Pulver in eine Tasse und goss kochend heißes Wasser darüber. Seine Schultern waren zwar mit den Jahren etwas gebeugt, doch an seinem hochgewachsenen und durchtrainierten Körper war kein Gramm Fett zu viel. Da er kahlköpfig und ohne Augenbrauen war, konnte man sein Alter nur schwer schätzen.
    Er knabberte lustlos an einem trockenen Keks. Das fehlte ihm vielleicht am meisten, wenn er an die Vereinigen Staaten zurückdachte: ein Muffin zu seinem Kaffee. Ansonsten … Er hatte Amerika ohne Bedauern verlassen. Hier konnte er seine Arbeit fortsetzen, ohne sich ständig mit ethischen Fragen, die die Wissenschaft am Fortschritt hinderten, herumschlagen zu müssen. Sobald er seine Methode perfektioniert hätte, würde er viel Geld verdienen, das wusste er ganz genau. Die Reichen aus aller Welt würden zu ihm eilen, denn er hatte den Schlüssel zum Glück gefunden. Und das würde er sich teuer bezahlen lassen.
    Es verging kein Tag, an dem er nicht sein Verfahren im Labor verbesserte und sich zu seinen Fortschritten beglückwünschte. Seine Forschung – sofern er sie weiterhin finanzieren könnte – würde ihm eines Tages Ansehen bei seinen internationalen Kollegen einbringen. Im Allgemeinen war er eher von finsterer Natur, konnte aber, wenn es um seine Arbeit ging, regelrecht gesprächig werden. Was ihn begeisterte und ihn nächtelang wach hielt, war das

Weitere Kostenlose Bücher