Begraben
nicht.
»Nein.«
»Ihnen ist nichts widerfahren, das Ihrer Meinung nach der Ursprung Ihrer Albträume sein könnte?«
»Nein.«
Cyrille Blake schwieg einen Augenblick.
»Haben Sie Familie?«
»Nein. Ich kenne meinen Vater nicht. Meine Mutter, sie … sie ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
»Wie alt waren Sie?«
»Zwölf.«
»Das tut mir leid. Großeltern?«
»Sie sind gestorben, als ich zwanzig war.«
Cyrille legte nachdenklich die Hände vor den Mund. Konnte der Unfall seiner Mutter Auslöser der zwanzig Jahre später auftretenden PTBS sein? Zunächst einmal müsste sie ihn zu seinem Aufenthalt im Krankenhaus Sainte-Félicité zehn Jahre zuvor und dem Motiv für seinen Selbstmordversuch befragen, aber sollte sie die Gründe nicht besser als jeder andere kennen? Sie nagte an der Unterlippe. Sie fühlte sich in die Enge getrieben. Wenn sie ihm dazu Fragen stellte, würde sie damit zugeben, dass sie ihn vergessen hatte. Ein sehr schlechter Start für eine Therapie, die auf Vertrauen basierte. Sie liefe Gefahr, ihn noch mehr zu destabilisieren und sich selbst völlig unglaubwürdig zu machen. Die Angelegenheit war verwirrend. Die Zeit verstrich. Doch sie konnte den jungen Mann nicht gehen lassen, ohne ihm zu helfen.
»Kommen wir auf Ihre Albträume zurück. Worum geht es darin?«
»Ich … ich werde verfolgt.«
»Von wem oder von was?«
»Ich weiß nicht. Er … ist ohne Gesicht … ohne Augen.«
»Er?«
»Ein Mann.«
»Ohne Gesicht und ohne Augen.«
»Ja.«
»Und was geschieht?«
»Er sticht mit dem Messer auf mich ein.«
»Wohin zielt er?«
Julien senkte den Blick. Er strich mit der Hand über das Gesicht.
»Dorthin, in die Augen, in den Mund, überall hin, ich blute. Ich sehe nichts mehr, denn meine Augen sind voller Blut.«
Cyrille rieb sich das Kinn.
»Und was machen Sie?«
»Ich rühre mich nicht.«
»Sie wehren sich nicht?«
»Nein. Ich bin wie gelähmt. Ich wache auf, bevor ich sterbe.«
Der junge Mann lehnte sich in seinem Sessel zurück, seine kräftigen Schultern sanken nach vorn, die Muskeln seines Halses spannten sich an, sein schmerzerfüllter Blick verlor sich in der Leere.
»Jede Nacht, jede Nacht fängt es von vorn an. Ich habe Angst, einzuschlafen. Dabei habe ich sonst im Leben eigentlich vor nichts Angst.«
Das konnte Cyrille sich vorstellen. Der junge Mann war groß, gut gebaut und dürfte nur schwer einzuschüchtern sein.
»Monsieur Daumas?«
Er hob den Blick. Cyrille Blake schenkte ihm ein ermutigendes Lächeln.
»Wir praktizieren hier mentale Arbeitstechniken, die sich bei der Bekämpfung der schlimmsten Albträume bewährt haben. Die Methode wurde erfolgreich bei Soldaten getestet.«
»Muss man Medikamente nehmen?«
Cyrille schüttelte den Kopf.
»Nein, ich schlage Ihnen keine Behandlung mit Psychopharmaka vor. Unsere Methode greift auf mentale Bilder zurück.«
»Und wann kann ich anfangen?«
»Zunächst würde ich gern Ihr Schlafverhalten aufzeichnen und dabei Ihren Melatoninspiegel messen. Könnten Sie eine Nacht in unserem Schlaflabor verbringen?«
»Ja. Wann?«
Cyrille klinkte sich in den Zentralcomputer der Klinik ein.
»Ich habe keinen Platz vor … einem Monat. Es sei denn … Wir haben eine Absage für heute Abend. Wäre das für Sie machbar?«
Julien Daumas strich über den leichten Flaum an seinem Kinn.
»Ja.«
Cyrille Blake klappte das Krankenblatt zu: ein Zeichen, dass die Sitzung beendet war. Sie begleitete ihn zur Tür. Ich sehe ihn eher an einem Strand auf Hawaii als hier. Sie schüttelte ihm erneut die Hand und sagte: »Bis heute Abend.«
Julien Daumas schien zu zögern und nicht wirklich gehen zu wollen. Er vergrub die Hände in seinen Jeanstaschen und schickte sich an, über die Schwelle zu treten, hielt dann aber inne, als erinnere er sich plötzlich an etwas, und drehte sich um. Sein Blick verfinsterte sich, seine Stimme war eine Oktave tiefer.
»Warum tust du die ganze Zeit so, als würdest du mich nicht kennen? Erinnerst du dich nicht an mich?«
Cyrille zuckte zusammen, als hätte man ihr einen heftigen Stromschlag versetzt.
Der junge Mann trat einen weiteren Schritt auf sie zu und musterte sie aufmerksam.
»Ich glaube, blond hast du mir besser gefallen …«
Um 9 Uhr 05 machte Julien Daumas kehrt und ging. Cyrille blieb perplex auf der Türschwelle stehen.
2
»Marie-Jeanne, bitte ruf sofort in Sainte-Félicité die Abteilung von Professor Manien an. Erkundige dich, ob und mit welcher
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