Begraben
und sie hatte noch kein einziges weißes Haar. Doch das lag an der kastanienbraunen Tönung, die sie bereits seit einigen Jahren verwendete und die eine Nuance dunkler war als ihre Naturfarbe. Sie wollte nicht nur die grauen Haare verdecken sondern vielmehr die drei kleinen Muttermale am Haaransatz, die sie hässlich fand. Sie sah sich selbst in die Augen. Ihre Anspannung war spürbar. Sie hatte schon seit Langem vor nichts mehr Angst, seit damals, als sie auf die Ergebnisse der Krebsdiagnose ihres Vaters gewartet hatte. Prostatakrebs, der rechtzeitig erkannt worden war. Doch jetzt ging es um sie. Und das war ebenso Furcht einflößend.
Kalter Schweiß klebte die Seidenbluse an ihren Rücken. Sie atmete mehrmals tief durch und versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen. Aus dem Yogaraum hinter dem Wartezimmer drang Musik zu ihr. Sie konzentrierte sich auf die entspannenden Klänge und versuchte, darin Trost zu finden. Sie strich über das Diamantherz – ein Geschenk ihres Mannes –, das sie um den Hals trug. Die Berührung beruhigte sie für einen Augenblick.
Ihre Gedanken wanderten zurück zur Klinik Sainte-Félicité. Wie konnte sie eine mehrere Wochen dauernde Behandlung eines Patienten vergessen? So viel sie auch über die Frage nachdachte, sie fand keine logische Erklärung, die nicht auf eine Krankheit schließen ließ.
Mit meinem Gehirn stimmt etwas nicht. Welche Ironie des Schicksals bei meinem Beruf … Sie könnte die Sache ignorieren und weiterleben, als sei nichts geschehen. Aber nein. Am Vernünftigsten wäre es, medizinischen Rat einzuholen und den Symptomen auf den Grund zu gehen. Sie wandte sich vom Spiegel ab und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. Sie hasste es, Schwäche zu zeigen und sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchte. Wenn es ihr schlecht ging, war sie eine Einzelkämpferin, doch jetzt musste sie ihren Stolz überwinden. Sie würde Muriel, ihre Freundin, die Neurologin war, anrufen, und dann ihren Mann Benoît, den Neurobiologen. Sie wüssten sicher, was zu tun war. Diese Vorstellung beruhigte sie. Ihr Mann, der fünfundzwanzig Jahre älter war als sie selbst, hatte viele Fehler, doch in schwierigen Zeiten gab er ihr Sicherheit.
Ein durchdringender Pfeifton. Die Sprechanlage. M. Hernandez war endlich da – mit fünfundzwanzig Minuten Verspätung. M. Hernandez mit seinen Erektionsproblemen …
3
Das Summen und Klopfen des Apparats war unangenehm. Es war 13 Uhr 30, und ihr Magen knurrte. Sie hatte nichts gegessen, denn Muriel hatte sie nur um die Mittagszeit zwischen zwei Terminen einschieben können. Cyrille Blake schloss die Augen und versuchte, etwas anderes zu denken als ich stecke in einer Röhre, aus der ich nicht entkommen kann, und ich leide unter Klaustrophobie . Bedrohliche Geräusche um sie herum, während ihr Gehirn virtuell in Scheiben zerteilt wurde. Bei Hunderten von Patienten hatte sie diese Untersuchung selbst durchgeführt und ihnen die Angst zu nehmen versucht. Jetzt war sie diejenige, der man gut zureden musste. Unglaublich, wie verletzlich man sich in dem Ding fühlt … Ein beruhigendes Mantra des buddhistischen Mönches Thich Nhat Hanh half ihr, sie wiederholte es wieder und wieder: Ich bin frisch wie der Tau. Ruhig und stark wie die Berge. Wie die Erde so fest. Ich bin frei. Sie dachte an ihr Leben. An ihre Zeit als Studentin. Die vielen Vorlesungen und Scheine, die endlose Paukerei, der Anatomieatlas, den sie auswendig gelernt hatte … Ihr Gedächtnis war immer ausgezeichnet gewesen. Die Sache war einfach: Sie hatte sich ganz auf ihre Fähigkeit, zu lernen, zu denken, zu analysieren und sich zu erinnern verlassen können und ihre Examina eines nach dem anderen bestanden. Wenn sie das nicht mehr könnte, wäre sie beruflich erledigt. Was wäre, wenn sie einen Hirntumor hätte? Ihr wurde bewusst, dass sie von einem Übel bedroht war, das stärker war als sie selbst. Sie war auf die dunkle Seite der Kranken gewechselt. Auf die Seite derer, die halbtot vor Angst auf ein Ergebnis warten. Das war das erste Mal in ihrem Leben.
Eine halbe Stunde später wartete sie im Raum neben dem Kernspin mit ihrer alten Studienfreundin Muriel Wang, Neurologin am Pitié-Salpêtrière, gespannt darauf, dass die Bilder auf dem Computermonitor angezeigt wurden. Die hübsche dunkelhaarige Frau mit den asiatischen Zügen, die während ihrer elfjährigen Freundschaft mehr als einem Mann den Kopf verdreht hatte, versuchte, sie zu beruhigen:
»Dein Verdacht ist
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