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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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entstanden, weil du dich an einen Patienten, den du vor zehn Jahren behandelt hast, nicht mehr erinnern kannst?«
    »Ja, und er duzt mich, als würde er mich wirklich gut kennen … Das hat mich unglaublich … verunsichert.«
    »Nun, das mag vielleicht etwas verrückt sein … Aber man kann sich nicht an alle seine Patienten erinnern, meine Liebe! Warum machst du dir also Sorgen?«
    Muriel war neben Marie-Jeanne eine der wenigen Personen, die sich trauten, offen mit Cyrille zu reden.
    »Gut, Muriel. Aber was ich dir noch nicht erzählt habe, ist, dass mir so etwas nicht zum ersten Mal passiert.«
    »Aha …«
    Muriel registrierte, dass Cyrille an ihren Nägeln kaute – etwas, was ihre Freundin für gewöhnlich nicht tat.
    »Vor zwei Wochen habe ich meinen Vater aus dem Norden kommen lassen und ihn zur Prostatauntersuchung zu Rothschild geschickt. Er ist ein Freund von Benoît und ein erfahrener Krebsspezialist. Nun, ich hatte versprochen, ihn später dort abzuholen und … habe es vergessen. Als er mich auf dem Handy anrief, aß ich gerade in aller Ruhe in meinem Büro zu Mittag.«
    Muriel Wang zog kaum merklich die Augenbrauen hoch, was ihr Erstaunen verriet, doch sie bemühte sich weiter, die Ängste ihrer Freundin zu zerstreuen:
    »Und, das ist alles?«
    »Gestern hat mich Mercier – das ist unser Spezialist in Sachen Radiologie – an ein Mittagessen mit möglichen künftigen Geldgebern erinnert. Vertreter eines großen Pharmakonzerns, die wir unbedingt für uns gewinnen müssen, um unser Budget für nächstes Jahr zu sichern. Wieder dasselbe: Ich hatte den Termin vergessen.«
    »Das kann jedem mal passieren, Cyrille …«
    »Jedem außer mir!«
    Der kategorische Ton, den Cyrille immer häufiger gegenüber Kollegen anschlug, ärgerte Muriel, doch sie übte Nachsicht und schrieb ihn Cyrilles Angst zu.
    »Und warum sollte dir das nicht passieren?«
    »Ich bin wie ein elektronischer Terminkalender. Ich erinnere mich immer an alles. So als hätte ich eine Festplatte im Gehirn.«
    »Nun gut. Hast du andere Symptome?«
    »Nein. Das heißt, manchmal ein leichtes Schwindelgefühl … Sieh mich nicht so an, ich weiß, ich hätte früher kommen sollen. Ich habe nicht gedacht, dass es etwas Schlimmes sein könnte.«
    »Hast du mit Benoît darüber geredet?«
    »Ich habe ihn angerufen, ehe ich zu dir gekommen bin, seine Mailbox war eingeschaltet. Er hat im Moment sehr viel mit dem Nobelpreiskomitee zu tun.«
    Cyrille massierte ihre Nasenwurzel. Verdammt! Entweder ist das Alzheimer im Anfangsstadium, oder ich habe einen Tumor.
    »Nein, es ist wahrscheinlich kein Alzheimer. Du weißt genau, dass sich in diesem Fall Angehörige und Freunde über Gedächtnislücken beklagen, nie der Kranke selbst.«
    »Ich habe ja noch gar nichts gesagt!«
    »Ja, aber du denkst daran, und das ist normal.«
    Pixel für Pixel baute sich das Bild auf. Mit klopfendem Herzen starrte Cyrille auf das Innenleben ihres eigenen Gehirns.
    Die Rillen, Vertiefungen und Erhebungen, die aktiven und die Ruhezonen, die rechte und die linke Gehirnhälfte. Ihre gesamte Intelligenz, ihr gesamtes Wissen waren »darin« enthalten. Eine dichte Masse von eintausendzweihundert Kubikzentimetern, die auch all ihre Probleme und Ängste beinhaltete, ihre Furcht, die Letzte zu sein, kein Geld zu haben, ihr zwingendes Bedürfnis nach Anerkennung und Verdienst, ihr Wunsch, andere zu heilen und selbst nie die Kontrolle zu verlieren. In diesen knotigen Windungen waren auch ihre Erinnerungen verewigt, ihre Gefühle für ihren Vater, ihre Mutter, für Benoît, den sie gerne den Großen Mann nannte, für ihren alten Kater Astor und … für ihre Musik … All das war in dieser Hülle verborgen, die so empfindlich und verformbar war, dass ein Aufprall, eine Verletzung alles für immer beeinträchtigen oder auslöschen könnte. Sie fühlte sich plötzlich nackt und verletzlich. Muriel klickte sich durch die einzelnen Schnitte. Beide betrachteten sie die Bilder. Es herrschte ein lastendes Schweigen.
    *
    Eine Stunde später betrat Cyrille ihre geräumige Wohnung im siebten Arrondissement von Paris. Im Flur zog sie ihre Schuhe aus, lief barfuß über den flauschigen anthrazitfarbenen Teppichboden des großen Wohnzimmers und betrat die Bibliothek, in die sie sich gerne zum Arbeiten zurückzog. Sie öffnete die quietschenden Türen des alten Schranks – ein Erbstück ihrer Großmutter –, in dem sie ihre Akten verwahrte. Der Geruch nach Mottenkugeln schlug ihr entgegen. Im

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