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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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untersten Fach stand ein kleiner Koffer aus rotem Lederimitat. Sie hockte sich hin und öffnete ihn. Dann wischte sie sich über die Augen und griff nach dem Instrument.
    Kurz darauf strich ihre Hand über die Tasten des Bandoneons, das sie an ihre Brust drückte. Die ersten Töne des Adios Nonino von Astor Piazzolla erklangen im Raum. Sie spielte den Tango zunächst langsam, um ihre Finger geschmeidig zu machen, und steigerte dann das Tempo. Sie musste die Angst in sich aufsteigen lassen, um sie vertreiben zu können. Der sich blähende Balg, die anrührenden Klagelaute, die ihr zu Herzen gingen, schenkten ihr Frieden, ein unglaubliches Glücksgefühl. Sie spielte auf dem Bandoneon ihres Vaters. Wie jedes Mal brachten die Klänge ihren Körper zum Vibrieren. Sie gab sich ihnen ganz hin und seufzte, während sie spielte und ihr Herz seinem eigenen Rhythmus folgte. Der Tango, sein Spiel mit der Annäherung, das stetig unterdrückte Verlangen, die Macht der Verführung, der Liebe und des Todes. Das Bandoneon rührte an ihre Erinnerung, brachte sie zum Weinen und gab ihr die Bodenhaftung zurück.
    Sie hatte das Spielen innerhalb weniger Monate erlernt und war in den folgenden Jahren fast unbemerkt zur Virtuosin geworden. Triller und Appoggiaturen folgten aufeinander, ihre Finger flogen immer schneller über die Tasten, und plötzlich setzte die Magie ein. Sie war allein auf der Welt, alle unbeantworteten Fragen waren wie ausgelöscht. Die gewaltige Musik, so sinnlich, leidenschaftlich und melancholisch, erfüllte sie. Astor, ihr alter schwarzer Kater, der faul auf dem Schreibtisch lag, begann zu schnurren und lauschte mit halb geschlossenen Augen den Klängen seines berühmten Namensvetters. Cyrille setzte zum Schlussakkord an, die Klänge schwollen an und verebbten. Sie hob den Kopf, ihre Wangen waren tränenüberströmt. Sie fühlte sich besser, sie würde es schaffen.

4
     
    Ihre Absätze klapperten auf dem Parkett im Eingangsbereich des Centre Dulac. Diese Klinik war ihr größter Erfolg. Im Moment war sie noch recht bescheiden, mit nur vier Ärzten, die nicht alle Vollzeit arbeiteten, und lediglich drei Zimmern für stationäre Patienten. Cyrille hatte gezögert, welchen Namen sie ihrem Haus geben sollte. Nach langem erfolglosem Nachdenken hatte sie sich für etwas Einfaches entschieden. Centre Dulac nach der kleinen Straße im fünfzehnten Pariser Arrondissement, in der es sich befand. Sie hatte es vor fünf Jahren dank der finanziellen Unterstützung zweier amerikanischer Pharmakonzerne eröffnen können. Diese hatten die Rechte für die Herstellung von Meseratrol gekauft und sich bereit erklärt, ihr zu einem niedrigen Preis zweihundertfünfzig Quadratmeter zu vermieten. Die Räumlichkeiten befanden sich im Erdgeschoss und ersten Stock eines modernen Gebäudes und waren durch eine hölzerne Wendeltreppe verbunden. Langfristig wollte sie hier die neuesten physikalischen, psychologischen und chemischen Therapien zusammenführen, die für die Behandlung ihrer Patienten nötig waren.
    Die Wanduhr am Empfang, wo eine Assistentin gerade zwei Patienten begrüßte, zeigte 16   Uhr   30. Cyrille nickte ihnen zu und lief durch den hellblau gestrichenen Gang, in dem abstrakte Bilder hingen. Das Erdgeschoss war den leichteren Fällen vorbehalten, die wegen kleiner alltäglicher Probleme wie Stress hierherkamen und mit Yoga, Entspannungsübungen, Meditation, Musik- oder kurzen Gruppenpsychotherapien sowie Hypnose behandelt wurden. Aus dem letzten Raum drangen sanfte Klänge. Sie warf einen schnellen Blick hinein. Maia, die Yogalehrerin, leitete eine Gruppe Senioren, die gerade auf ihren Gymnastikmatten den Kopfstand übten. Die beiden Frauen nickten sich zu. Cyrille Blake war prinzipiell offen für alle Therapieformen. Ihr oberstes Gebot war, dass der Patient sich beim Verlassen des Zentrums glücklicher und in seinem Leben wohler fühlen sollte als vorher.
    Rasch stieg sie die Stufen zum ersten Stock hinauf. An diesem Nachmittag stand eigentlich nur Routinearbeit auf dem Programm: Die behandelten Fälle rekapitulieren, die Budget-Sitzung vorbereiten und auch den Vortrag, den der Philosoph André Lecomte am übernächsten Tag hier halten würde, und dann musste sie sich noch überlegen, was sie abends zu Benoîts Geburtstagsessen anziehen wollte. Doch Cyrille wurde von Enttäuschung und Angst gequält. Der Kernspin hatte nichts ergeben, nicht das kleinste Blutgerinnsel oder eine Dysfunktion. Nichts, was ihren Blackout

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