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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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hätte erklären können. Sie hatte geglaubt, das MRT würde alles erhellen. Doch die Untersuchung hatte ihre Verunsicherung nur noch schlimmer gemacht und neue Fragen aufgeworfen. Und ihr Mann hatte noch immer nicht auf ihre Nachrichten geantwortet.
    Das Gespenst einer Alzheimererkrankung ließ ihr keine Ruhe. Dieses Leiden war durch bildgebende Verfahren nicht belegbar, lediglich eine post mortem vorgenommene Biopsie konnte sie bestätigen. Zu Lebzeiten des Patienten konnte man die Diagnose nur anhand der klinischen Symptome erstellen. Der Verlauf der Krankheit war in zehn Stufen unterteilt, und es war durchaus möglich, dass sie sich in ihrem Fall noch in einem nicht nachweisbaren Stadium befand.
    Das Gefühl, versagt zu haben, zermürbte sie. Ihr Gedächtnis ließ sie im Stich. Sie musste an ihre Großmutter denken, eine hübsche, kleine alte Dame, seit ihrem vierzehnten Lebensjahr Tüllmacherin, die Cyrille nicht lange gekannt hatte. Doch sie erinnerte sich, dass sie sie witzig fand, weil sie nicht mehr ganz bei Verstand war und eigenartige Geschichten ohne den geringsten Bezug zur Realität erzählte. Und wenn es mir nun genauso ergehen wird?
    Sie begab sich in den ersten Stock, eilte vorbei am Schlaflabor, in dem nachts gleichzeitig die Werte zweier Patienten aufgezeichnet werden konnten, und einem Entspannungsraum zu ihrem Büro. Cyrille bemerkte, dass Marie-Jeanne nicht da war. Sie machte sich einen Kaffee und knabberte einen Keks. Sie fühlte sich deprimiert. Und plötzlich sah sie sich als kleines Mädchen. Blonde Zöpfe, mit Samtrock und blauem Lycra-Pullover. Sie war im Norden in der Kleinstadt Caudry geboren worden, wo ihre ganze Familie in der Textilindustrie arbeitete. Sie war nicht im Luxus aufgewachsen und hatte sich stets geschworen, eines Tages ihr Zuhause zu verlassen und etwas anderes zu sehen. Und das war ihr gelungen.
    Nach dem Tod ihrer Mutter – sie war damals zehn Jahre alt gewesen – war sie allein mit ihrem Vater in dem Häuschen in der Rue des Martyrs, einer ruhigen und düsteren Bergarbeitersiedlung, zurückgeblieben. Der Vater hatte seine »kleine Lily« damals in ein Internat nach Amiens geschickt. An diese Zeit erinnerte sie sich nicht gerne. Das blonde, schmächtige und schüchterne Mädchen war eine Musterschülerin und wurde deshalb von ihren Kameraden gehänselt.
    Das mit Auszeichnung bestandene Abitur in der Tasche, stieg sie in den Zug nach Paris, wo sie mit Leichtigkeit die Aufnahmeprüfung in die medizinische Fakultät in der Rue des Saints-Pères bestand. Nicht zurückblicken, sich nicht vergraben, immer voranschreiten. Äußerst begabt in Mathematik und Naturwissenschaften, verfügte sie zudem über ein hervorragendes Gedächtnis, sodass sie ihr Studium in Rekordzeit absolvierte. Als sie dann vor der Wahl der Fachrichtung stand, entschied sie sich für Psychiatrie, die schwierigste Ausbildung.
    Gedankenverloren massierte sich Cyrille den Nacken.
    Die Schauergeschichten über die klinische Ausbildungszeit waren keine Erfindung. Sie hatte zwei Jahre lang in der Abteilung B von Sainte-Félicité gelitten. Kleine dunkle Zimmer mit vergitterten Fenstern, in denen die von der Gesellschaft Ausgestoßenen verkümmerten. Die meisten von ihnen waren verarmt und mittellos, und die Krankheitsbilder umfassten alles, von schlichter Verzweiflung bis zu schweren psychopathologischen Störungen.
    Sie hatte geglaubt, sich um diese Menschen kümmern, ihnen zuhören und dabei helfen zu können, wieder auf die Beine zu kommen. Doch nach zehn Tagen hatte sie es begriffen. Die Patienten wurden von dem überforderten Personal derart mit Medikamenten vollgestopft, dass jegliche Interaktion unmöglich war. Professor Manien verfolgte eine einfache Politik: Die Kranken wurden mit Neuroleptika gefüttert, damit man seine Ruhe hatte, und dann verlegt. Multiple Persönlichkeiten, Schizophrene, gefährliche Psychotiker und Perverse … Sie hatte nichts ausrichten können.
    Und aus dieser Hölle war Julien Daumas wieder aufgetaucht? Cyrille fröstelte.
    Weder seine Gesten noch seine Haltung oder der Klang seiner Stimme waren ihr irgendwie bekannt vorgekommen. So sehr sie sich auch anstrengte und die Insassen der fünfzehn Zimmer, die therapeutischen Sitzungen oder gar die Elektroschockbehandlungen und die Isolationszelle Revue passieren ließ, sie konnte sich an rein gar nichts erinnern. Sie brach zwei Stückchen Schokolade ab und versuchte erneut, Benoît zu erreichen. Wieder die Mailbox. Sie

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