Behalt das Leben lieb
Weg zur Schule finden können? In Gedanken trat Beer aus dem elterlichen Haus. Der Weg bis zur Gartentür. Dann rechts. Ja, wenn man am Rand des Bürgersteigs einen Stock entlanggleiten ließ, konnte man nicht falsch gehen. Aber den Buchenweg entlang standen Bäume. Konnte man einen Zusammenprall vermeiden, wenn man den Stock geschickt vor sich hin und her schwenkte?
Auf dem Weg zur Schule musste er vier Mal, nein, fünf Mal, die Straße überqueren. Konnte man das überhaupt allein? Natürlich erst auf den Verkehr hören, dachte Beer. Wenn keine Autos und Mofas zu hören waren, musste man nur den weißen Stock ausstrecken, nach der Methode: »Achtung – Leute – jetzt – komm – ich!«
Sie würden bestimmt zu ihm hinsehen und ihn bedauern, denn anfangs ging er gewiss noch sehr unbeholfen über die Straße.
»Du musst dich gegen das Mitleid der Leute abhärten«, hatte der Student ihm gestern noch ans Herz gelegt. »Zeig jedem, dass du kein Mitleid willst. Lass vor allem kein Wrack aus dir machen.«
Der Student hatte natürlich recht. Wenn man ein bisschen findig war, konnte man eine MengeHindernisse umgehen. Allerdings begriff Beer sehr genau, dass er viele Dinge nie mehr tun konnte. Rad fahren zum Beispiel. Musste er fortan immer bei Freunden auf dem Gepäckträger sitzen? Dann mussten die sich dumm und dämlich trampeln für ihn. Irgendjemand berührte seinen Arm. Beer erschrak, weil es völlig unerwartet geschah.
»Ich komm ein bisschen plaudern.« Es war der Student. Er sprach leise, um die anderen nicht zu stören.
»Willst du nicht studieren? Es ist gerade schön still.«
»Ich bin jetzt nicht in Stimmung.«
»Ist Studieren schwer?«
»Das nicht, aber . . .« Die Antwort blieb in der Luft hängen.
»Musst du noch lange studieren?«
»Nein.« Und plötzlich klang die Stimme des Studenten wieder so traurig: »In ein paar Wochen bin ich mit allem fertig.«
Irgendetwas ist nicht in Ordnung, dachte Beer. Gerne hätte er jetzt das Gesicht des Studenten gesehen. Es lag etwas in seiner Stimme, das den Worten eine andere Bedeutung verlieh. War es etwas, das Beer noch nicht begriff?
»Bist du nicht froh, dass das Studium jetzt bald zu Ende ist?«
»Es ist nicht nur das, Beer. Auch alles andere ist bald zu Ende.«
Schnell, ganz schnell nahm Beer die letzten Worte in sich auf. Dann drang die schrecklicheWahrheit allmählich in sein Bewusstsein. »Meinst du . . . nein, du meinst doch nicht . . .« Bestürzt hielt Beer den Atem an.
Der Student packte ihn am Arm. Er sprach jetzt wieder mit jener ruhigen Vertraulichkeit, die Beer so gut an ihm kannte. »Ja, das meine ich. Ich hab nur noch ein paar Wochen.«
»Aber . . .«
»Du darfst nicht erschrecken, Beer. Ich bin nicht der Erste und ich werd auch nicht der Letzte sein. Wir denken immer, der Tod ist ein erbarmungsloser Feind. Aber wenn man ganz dicht vor ihm steht, so wie ich, dann gleicht er eher einem liebenswerten Freund.«
»Ich . . .« Beer wusste nicht, was er sagen sollte. Es würgte ihn.
»Sprich nicht mit den anderen drüber. Es soll ein Geheimnis zwischen uns bleiben.«
»Aber . . .« Beer schluckte. »Warum erzählst du es gerade mir?«
»Weil es dir helfen kann. Weil . . . wenn sogar der Tod ein Freund sein kann, dann kann auch die Blindheit ein guter Kamerad werden. Ich möchte so gern, dass du das Leben lieb behältst, wenn es auch manchmal enttäuscht.«
»Heh!« Gerrit war aufgewacht und drehte sich um. »Heh, was sitzt ihr da und tuschelt?«
»Ach, nichts Besonderes.« Der Student sagte es ganz ruhig, als wäre das Sterben nicht etwas ganz Besonderes. Er schaute jetzt lächelnd zu Gerrit hin.
»Bah«, murmelte Gerrit. »Dass ich jetzt ausgerechnetdeine Fassade sehen muss. Ich hab gerade von so einem hübschen Mädchen geträumt. Blond, mit allem Drum und Dran. Sie hat gesagt: ›Gert, komm mal her zu mir.‹ Und verdammt, als wenn ich keine kaputten Füße hätte, ich lief zu ihr hin.«
»Wenn ich du wäre, würde ich jetzt weiterschlafen. Vielleicht kommt das hübsche Mädchen dann wieder zu dir zurück.« Der Student lachte, während Beer zum Heulen zumute war.
»Ach, Mann, geh doch zum Teufel«, brummte Gerrit halb zu sich selbst.
Diese alltägliche Redewendung schnitt Berend ins Herz. Und es schien gerade so, als weine deswegen selbst der Himmel, denn der Wind blies heulend einen neuen Regenschauer an die Fensterscheiben und klatschend spritzten die Tropfen auseinander.
»Wir liegen wenigstens im Trockenen«, sagte der
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