Behandlungsfehler
sind, das Gefühl zu geben, diese ernst zu nehmen. Im Ergebnis leistet das aber kein Mehr an Patientensicherheit, sondern stellt nur eine Kodifizierung der Rechtsprechung dar. Vieles, was bislang klar war, ist nunmehr milchig.
Ausblick
W ohin die Reise geht, weiß ich nicht. Aber: Es ist vieles im Umbruch. In den Krankenhäusern und Arztpraxen haben sich auch nach 1968 die konservativen Wertvorstellungen noch lange gehalten. Die Ärzte und insbesondere der Chefarzt galten als quasi unfehlbar, die Arbeit der »Götter in Weiß« hinterfragte man nicht. Das war ein System von Über-und Unterordnung. Die alten Filme spiegeln und idealisieren das. Immer wieder gibt es Szenen, in denen der Chefarzt mit Schlips und Kragen zur wöchentlichen Chefvisite erscheint und mit den Schwestern und Assistenzärzten im Schlepptau durch die Station rauscht.
Dieses Bild vom Arzt ändert sich gegenwärtig. Auch im Gesundheitswesen wird spürbar, dass wir in einer äußerst transparenten Leistungsgesellschaft leben. Der Patient hinterfragt, und das ist auch gut so. Es ist an der Zeit, am Thron des Arztes zu rütteln. Das passiert, indem wir uns zunehmend mit Behandlungsfehlern befassen. Wir lösen uns von dem hierarchischen Denken und verhalten uns nicht mehr wie die Lemminge. Unsere Gesellschaft bricht mit einem Tabu. Fehlermanagement wird zu einem zentralen Begriff. Aber diese Entwicklung hat auch eine Kehrseite.
Die Ärzte selbst sind geradezu orgiastisch bemüht, sich Reglementierungen an die Seite zu geben. Sie versuchen, sich rechtlich abzusichern. Die Folgen sind Überdiagnostik und Therapien, die Leitlinien folgen, statt sich primär am Individuum zu orientieren. Das Ermessen des Arztes wird dadurch
immer mehr reduziert. Das ist die Schattenseite des Arzthaftungsrechtes. Wir gehen weiter weg von der individuellen Medizin. Die Entscheidungsfähigkeit des Arztes, was er dem einen oder dem anderen zumuten kann, ist für mich ein wesentlicher Bestandteil der Therapie. Er soll gerade nicht einem Schema folgen, sondern die Behandlung auf das Individuum abstimmen. Für mich ist die individuelle Medizin das erstrebenswerte Ziel. Aber auch wir Juristen sorgen dafür, dass sie immer mehr eingedämmt wird. Wir sagen zu dem Arzt: Rechtfertige dich doch einmal, wenn Du von dem Schema abgewichen bist.
In den Therapien gibt es viele Grenzbereiche. Nehmen wir an, ein Patient hat einen Tumor. Der Standard heißt: Ist er kleiner als zwei Millimeter, wird lokal reseziert, was einen kleinen Eingriff darstellt, ist er größer, wird die Maximaltherapie gemacht. Nun ist der Befund 2,5 Millimeter. Hier kommen wir in einen Bereich, in dem wir die individuellen Interessen des Patienten abwägen müssen: Wie alt ist der Patient, was macht er beruflich, was kann ich ihm zumuten? Und: Was nehme ich ihm für Lebensqualität, wenn ich ihn dem Standard nach mit der Maximaltherapie behandele, die vielleicht zusätzlich in einer Leitlinie festgehalten wurde, die bereits zehn Jahre alt ist? Wenn wir einfach dem Schema folgen, wird das Individuum nicht mehr wahrgenommen. Aber wenn der Arzt sich nicht an den Standard hält, dem Schema folgt, läuft er Gefahr, dass der Patient ihn verklagt. Es ist zum Glück noch nicht so weit. Aber ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass wir eines Tages dahin kommen.
Wenn Komplikationen auftreten, verfallen Ärzte heute schon oft in Angststarre. Sie fürchten juristische Konsequenzen. Auch wenn sie sich nicht dafür verantwortlich sehen, dass der Ist- vom Sollverlauf abweicht, haben sie Sorge, sich in irgendwelchen Fallstricken zu verknoten und straf-, berufs- oder zivilrechtlich belangt zu werden.
So könnte meine Arbeit letztlich darauf hinauslaufen, die standardisierte Medizin zu stärken. Fehlermanagement heißt
eigentlich, klare Vorgaben zu machen, damit möglichst wenig schiefgehen kann. Ärzte werden jedoch, allein um sich zu schützen, dem Schema folgen, statt in erster Linie das Individuum zu sehen. Man will den Patienten immer weniger zuhören, man will sich in seinen Handlungskorridoren immer sicherer sein.
Wir können diesen Prozess nicht aufhalten. Er findet in vielen Bereichen der Gesellschaft statt. Überall wird reglementiert. Neue Vorschriften werden erlassen, neue Gesetze, 60 Prozent der Weltliteratur des Steuerrechtes kommt aus Deutschland. Reglementierung führt immer zu einer Einschränkung des Ermessens. Und eine Einschränkung geht immer auf Kosten des Individuums. Dann brauchen Sie nicht das
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