Behzat C. - jede beruehrung hinterlaesst eine spur
hineinrutschte. Meistens war es so, daß mit der Zahl der vernommenen Zeugen der Haufen an Informationen wuchs, in dem die wichtigsten Erkenntnisse verlorengingen, unter lauter Aussagen, von denen man nie wußte, wo und wann sie zu etwas gut sein würden. Unwillkürlich wünschte er sich, daß Betül Selbstmord begangen hätte, und da er der Vater eines Mädchens in ihrem Alter war, mischte sich auch Scham in seinen Blick, als er sein Spiegelbild in der Windschutzscheibe betrachtete. Trotz seines dauerübernächtigten Gesichts mit dem ewigen Stoppelbart und dem Zinken, der einen Tick schief stand, seit er ihn sich im Alter von siebzehn Jahren gebrochen hatte, fühlte er sich fit. Er riß die Fahrertür auf und sprang auf die Straße.
Ein Name stand weder am Klingelbrett unten noch an der Wohnungstür, doch an einer Vielzahl abgestellter Schuhe konnte man ablesen, daß die Todesnachricht sich schon längst herumgesprochen hatte. Eine junge Frau von hoher Statur öffnete ihm die Tür. Als er sagte, daß er von der Polizei kam, verfinsterten sich ihre blauen Augen, ihr hübsches Gesicht versteinerte, und sie bat ihn nur widerwillig herein. Sie näherte sich einer der im Wohnzimmer eigens zum Weinen versammelten Frauen und beugte sich herab, um ihr etwas ins Ohr zu sagen.
Betüls Großmutter war nicht so alt, wie er sie sich vorgestellt hatte. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Mattheit, als habe sie immer noch nicht ganz begriffen, was geschehen sei. Behzat Ç dachte kurz nach, bevor er zu sprechen begann. Seine Sätze formulierte er mit der Prägnanz und Kürze eines Mannes, der sein Leben damit verbracht hatte, in den Wunden der Angehörigen von Todesopfern herumzustochern. Er wolle gern einige Fragen stellen, um den Fall aufzuklären, und – falls es möglich sei – einen Blick in das Zimmer der Verstorbenen werfen. Das schrille Geheule der versammelten Nachbarinnen schuf eine alptraumhafte Atmosphäre. Er musterte die weinenden Frauen eine nach der anderen. In solchen Runden heulten meist diejenigen am heftigsten, die den Verstorbenen am wenigsten kannten. Oder die Mörder, die den Verdacht von sich selbst ablenken wollten. Die Großmutter konnte kaum auf ihren Beinen stehen. Sie führte ihn zu Betüls Zimmer. Die junge Frau hatte noch den gleichen Gesichtsausdruck, mit dem sie ihn hereingebeten hatte.
»Haben Sie denn einen Durchsuchungsbefehl?«, fragte sie.
Ach Mädchen, halt doch mal den Ball flach
, maulte Behzat Ç innerlich. Früher hatten nur Leute diese Frage gestellt, die zu viele amerikanische Spielfilme schauten. Aber seit um die EU-Mitgliedschaft der Türkei verhandelt wurde, lag sie plötzlich in aller Munde.
»Ich bin gar nicht für eine Hausdurchsuchung gekommen.«
Als die Großmutter ihr einen strengen Blick zuwarf, bewegte sie ihre hübsche Figur in die Küche.
»Mein Name ist Hafize. Ich bin Betüls Amme.«
Ihr Kopftuch aus weißem Tüll war an den Rändern durchnäßt, weil sie allzu oft ihre Tränen damit abgewischt hatte.
»Ich dachte, Sie wären ihre Großmutter väterlicherseits.«
»Nein. Aber sie hat mich Oma genannt. Ich hab sie großgezogen. Als Betül zur Welt kam, war die Mutter von ihrem Vater schon tot. Hat sie sich denn wirklich selbst umgebracht?«
»Das wissen wir nicht, das untersuchen wir gerade. Dürfte ich eines ihrer Schreibhefte von der Uni mitnehmen? Wir müssen nämlich die Schrift vergleichen.«
Hafize öffnete den Schrank neben dem Bücherregal. Er war angefüllt mit übereinandergestapelten Schreibheften und Kladden.
»Ich weiß ja nicht, was Sie da so brauchen«, sagte sie. »Gucken Sie sich am besten selber um. Sie hat nie viel geredet, ich weiß auch nicht, was sie hatte.«
Hafize wischte sich die Augen ab und verließ das Zimmer.
Behzat Ç öffnete das erste Schreibheft, das oben auflag. Es war in arabischer Schrift vollgeschrieben. Auf der ersten Seite stand der Eintrag:
Seminar Osmanisch/Dozent: Lehrbeauftragter Dr. Vahap Sarı
. Das mußte der berüchtigte Vahap Hoca sein, von dem Ayşen berichtet hatte. Aber für einen Schriftvergleich würde sich dieses Heft nicht eignen. Also nahm er ein anderes.
Literarische Strömungen
. Er verglich die Schrift in dem Schreibheft mit der des Briefes und war leicht erstaunt, daß sie vom Charakter her einander ähnelten. Falls es sich beim Abschiedsbrief nicht um eine Fälschung handeln sollte, mußte man die Geschichte auf sich beruhen lassen. Dennoch war es notwendig, auf ein genaues
Weitere Kostenlose Bücher