Behzat C. - jede beruehrung hinterlaesst eine spur
Nationalbibliothek kaufte er eine
Verzogen
, eine
Milliyet
, Pfefferminzbonbons und zwei Schachteln 216. Er war wieder ins Auto gestiegen und hatte begonnen, sich die Zeitschrift anzuschauen, als ein junger Verkehrspolizist an die Scheibe klopfte.
»Kann ich mal bitte Ihre Papiere sehen?«
Aus der Tatsache, daß der Junge ihm ein Knöllchen schreiben wollte, zog er die Schlußfolgerung, daß an der Polizeiakademie weiterhin die Tradition bestand, die Tranigsten unter den Absolventen zur Verkehrspolizei zu schicken.
»Aber Herr Beamter, ich bin doch schon weg.«
»Keine Widerrede. Die Papiere bitte.«
Er reichte dem Beamten also seine Papiere. Der wurde plötzlich aschfahl, sagte: »Entschuldigen Sie, Herr Hauptkommissar!«, und gab die Papiere zurück.
5
An der Nationalbibliothek bog er in die 7. Straße ein. Hier lag deutlich weniger Schneematsch auf den Gehsteigen, da die Stadtverwaltung sich um die Vorzeigemeilen besser kümmerte. Er fuhr an Menschentrauben entlang, die an den Auslagen der Geschäfte vorbeiflanierten, bis er am Ende der Straße eine beidseitig zugeparkte Wohnstraße erreichte. Vor dem Haus, in dem Betül mit ihrer Großmutter gewohnt hatte, hielt er an.
Er begann, in der
Verzogen
zu blättern. Auf den ersten Blick schien sie ihm sehr befremdlich. Im Gegensatz zu den Zeitschriften, die er so kannte, war sie auf länglichen, aber schmalen Bögen braunen Papiers gedruckt. Zwar gab es auch hier Abbildungen von nackten Frauen, doch daneben standen lange Artikel in winzigkleiner Schriftgröße, die ihn an die arabischen Gebetstexte in Postkartenformat erinnerten, wie man sie zur Abschreckung von Ameisen an der Küchenwand aufhängte. Irgendwo in Richtung Heftmitte entdeckte er Betüls Gedicht. Man hatte ihren paar Zeilen eine halbe Seite gewidmet, die mit einem ganz komischen Bild unterlegt war.
abschiedsbrief 3
mauern errichtete ich aus
gegen den strom fließenden worten
indem ich sie wegstrich
kohlenaugen, karottennase und kieselmund
gab ich meiner schneeliebe. sie schmolz
des lebens überdrüssig
sah meine stirn noch den frühling
Er las das Gedicht ein zweites Mal und verglich es mit dem wirklichen Abschiedsbrief in seiner Hand. Vielleicht war der veröffentlichte Text Betüls letzte Botschaft an die Außenwelt, die sie mit Hilfe der Zeitschrift ausgesandt hatte. Doch wenn sie gewohnheitsmäßig ganze Serien von Abschiedsbriefen verfaßte, so konnte der Brief auch von jemandem stammen, der um ihre Angewohnheit wußte. Er war nicht unterschrieben, sondern wies lediglich in Blockschrift die Worte »Unterschrift: Betül« auf. Niemand unterschrieb in Druckbuchstaben. Selbst bei Menschen, die keine ausgeprägte Unterschrift hatten, sah man das Bemühen, den einen oder anderen Buchstaben abzuändern, um dem Schriftzug etwas Unverwechselbares zu verleihen.
Er blätterte noch durch den Rest der Zeitschrift, um Betüls im Ausland lebenden Freund zu identifizieren. Es konnte jede Person sein, die hier einen Artikel veröffentlicht hatte. Ayşen und Aykut hatten sehr schwammige Aussagen über ihn gemacht. Ein Freund im Ausland. Aber was für eine Art Freund, und welches Ausland? Er konnte sich in Griechenland aufhalten, aber ebensogut in Patagonien. Man wußte nicht einmal, was dieser Kerl genau mit Betül zu tun hatte. Behzat Ç wußte aus Berufserfahrung, daß Suizidkandidaten im vorhinein Signale an die Menschen in ihrer Umgebung aussandten. Ayşen hatte auf eine entsprechende Frage geantwortet, Betül habe darüber mit ihr zwar nie gesprochen, doch sie habe da einen Freund im Ausland, dem sie es sicher anvertraut hätte. Ayşen wisse, daß Betül ihm alles erzähle. Er hatte sie nicht gefragt, woher sie das wisse.
–
Woher weißt du das?
–
Sie hat das selber öfters gesagt
.
–
Hör mir doch auf. Wer sagt denn: Du, ich will dir meine Probleme zwar nicht erzählen, aber ich hab da einen Freund im Ausland, dem ich immer alles sage
.
–
Das mußte sie ja nicht so direkt ausdrücken, enge Freunde spüren sowas
.
–
Quatsch. Blödsinnige Verallgemeinerung
.
Der imaginierte Dialog in seinem Kopf spann sich fort. Doch die Wirklichkeit war anders: trocken, phantasielos und roh. Vielleicht hatten Ayşen und Aykut diesen Freund erfunden, um den Verdacht von sich abzulenken. Wie würden sie reagieren, wenn sich herausstellte, daß dieser Freund erfunden war?
Betül hat uns vorgeschwindelt, daß sie so einen Freund hatte
. Er spürte, daß er mal wieder in eine verworrene Angelegenheit
Weitere Kostenlose Bücher