Bei Anbruch des Tages
anfreundete.
4
D ie Ferien gingen zu Ende, und die Schule fing wieder an. Thérèse hatte Léonie gezeigt, wie man eine tarte aux champignons zubereitete, und als das Mädchen eines Abends für sich und die Mutter den Tisch deckte, stellte sie diese Delikatesse ofenfrisch auf den Tisch. Sie hatte dafür Pilze verwendet, die sie an ihrem letzten Ferientag selbst gesammelt hatte. Nach den Sommergewittern waren diese jetzt auf den Wiesen in Hülle und Fülle zu finden. Neben den Teller der Mutter hatte sie das Geld gelegt, das sie mit dem Lavendelverkauf verdient hatte.
Nadine aà ohne groÃen Appetit.
»Der Teig ist ein bisschen angebrannt«, bemerkte sie und sagte dann: »Nie machst du irgendetwas richtig! Und was soll dieses Geld hier?«
Léonie wurde traurig, weil sie sich ein Lob erhofft hatte. Deshalb sagte sie nichts darauf.
Nadine zählte das Geld und hakte nach: »Woher kommt das Geld?«
»Ein kleiner Beitrag für meinen Unterhalt. Ich hab es verdient, als ich mit Thérèse Lavendel verkauft habe«, flüsterte sie.
»Du brauchst dieses Jahr neue Schuhe, einen Mantel und Pullover für den Winter. Du wächst und wächst, und deine Sachen sind dir längst zu klein.«
Selbst das wurde ihr zum Vorwurf gemacht.
»Wenn sich deine GroÃmutter wenigstens dazu durchringen könnte zu sterben â¦Â«, setzte Nadine leise nach.
Léonie wusste, dass Nadine, sobald sie ihren Lohn bekam, sofort nach Arles eilte, um die Klinikkosten ihrer Mutter zu begleichen.
Sie verstand, dass es der Geldmangel war, der die Mutter so verbitterte. Und tatsächlich fuhr Nadine fort: »Der Hausbesitzer hat die Miete erhöht.«
Wieder einmal spürte Léonie, wie sehr ihr ein Vater fehlte, der ihr das Leben etwas hätte erleichtern können.
»Monsieur Clément hat gesagt, dass er mir Geld gibt, wenn ich zweimal am Tag seinen Hund ausführe«, schlug sie ihrer Mutter vor.
»Aber verstehst du denn nicht, dass uns ein paar Centimes nicht weiterhelfen?«, schrie die Frau.
»Was ist denn? Gibt dir dein Verehrer kein Geld mehr?«, schrie nun auch Léonie, den Tränen nahe.
Sie bekam eine schallende Ohrfeige.
»Etwas mehr Respekt!«, zischte Nadine.
Anstelle einer Antwort warf Léonie die tarte und das Geld in den Müll, verlieà Türen knallend die Küche und ging auf ihr Zimmer. Sie warf sich aufs Bett, bedeckte den Kopf mit einem Kissen und weinte. Sie spürte, dass sie ihrer Mutter zur Last fiel, die ohne sie viel mehr Geld gehabt hätte, aber eben ein Kind ernähren und sich nach einer zusätzlichen Einkommensquelle umschauen musste. Nadine hätte sie besser gar nicht erst zur Welt gebracht, schlieÃlich machte sie Léonie für alles verantwortlich, was in ihrem Leben schiefging. Das Beste war wohl zu sterben.
Sie würde verhungern.
Mit diesem Vorsatz schlief sie ein.
Als sie wieder aufwachte, war es schon hell. Ihr erster Schultag nach den Ferien stand bevor. Die Wohnung war leer. Auf dem Küchentisch standen eine Schale mit Frühstücksflocken und Milch sowie ein noch warmes Croissant.
Léonie lächelte bei dem Gedanken, dass ihre Mutter sie trotz allem vielleicht doch auch ein wenig lieb hatte. Sie sah ihre Klassenkameradinnen wieder. Alle waren gut erholt, und die Lehrerin lieà sie gleich einen Aufsatz schreiben.
»Erzählt, wie ihr die Ferien verbracht habt!«, sagte sie, nachdem sie alle durchgezählt und festgestellt hatte, dass ihre Klasse vollständig war.
Léonie begann, an ihrem Füller zu lutschen. Was sollte sie zu dem Thema schreiben? Ihre Freundinnen würden von ihrem Som mer am Meer oder in den Bergen, vielleicht von Paris oder dem Ausland berichten. Doch sie war zu Hause geblieben, hatte unter Hitze und Einsamkeit gelitten. Sie konnte ja schlecht berichten, dass ihre Mutter sie aussperrte, wenn sie Herrenbesuch bekam, dass die alte Ninette gestorben war und Thérèse sich als ihre GroÃmutter ausgab. Dass sie LavendelsträuÃchen verkauft und ihre Mutter nicht mal Danke gesagt hatte, als sie ihr ihr selbst verdientes Geld gegeben hatte.
Die Lehrerin bemerkte den traurigen Blick ihrer besten Schülerin. Sie rief sie nach vorn und fragte leise: »Warum schreibst du nicht?«
Léonie zuckte die Achseln.
»Ist etwas Schlimmes passiert?«
Das Kind schüttelte den Kopf. Die Lehrerin hatte aus den Aufsätzen des Vorjahrs
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