Bei Anbruch des Tages
werden wollte, sondern nur jemanden zum Zuhören brauchte. Er schien sie gar nicht richtig wahrgenommen zu haben, und auch für die Krankheit, an der ihre Mutter litt, interessierte er sich nicht. Einmal stellte er immerhin fest: »Anders als Sie komme ich jeden Sonntag hierher.«
Eine Krankenschwester hatte Nadine erzählt, dass Monsieur Perrin sehr reich sei, den besten Wein der ganzen Camargue herstelle und dass sein Weingut bereits über hundert Jahre alt sei. Deshalb hatte sie erwidert: »Ich bin alleinstehend, verdiene nicht viel, muss eine Tochter groÃziehen und bringe mich fast um, um die Klinikkosten tragen zu können. Vier Fahrten von Salon bis hierher übersteigen meine finanziellen Möglichkeiten. Zum Glück bekommt meine Mutter nichts mehr mit. Ob ich nun da bin oder nicht, ist für sie egal. Mir dagegen tut es sehr leid, sie nicht jede Woche sehen zu können, weil ich sie sehr liebe.«
Zum ersten Mal hatte Jean-Marie sie neugierig gemustert und dann gesagt: »Wenn Sie wollen, kann ich Sie sonntags in Salon abholen und anschlieÃend wieder nach Hause bringen.«
»Aber das kann ich unmöglich annehmen â¦Â«, hatte Nadine zögernd entgegnet.
»Aber ich bitte Sie, das ist doch gar nichts! AuÃerdem habe ich niemanden, der mir zuhört, nicht einmal meine Söhne, die viel zu selten zu Hause sind. Meine Frau, ja, die hat mir zugehört! Aber sie ist vor zwei Jahren gestorben. Eine furchtbare Krankheit, meine Régine fehlt mir sehr.«
Ein Sonntag folgte auf den nächsten, und während sich die kleine Léonie in Thérèses Obhut befand, wurde Nadine für den reichen Winzer zu einer unverzichtbaren Begleiterin.
An Weihnachten schenkte er ihr einen Korb mit Wein, Ãl und anderen Delikatessen: »Für ein üppiges Weihnachtsessen, Nadine. Ich würde Sie gern an den Festtagen zu mir einladen, aber meine Söhne sind da, und wer weiÃ, auf welche Gedanken sie kommen. Ich werde Sie, wie besprochen, am Neujahrsvormittag abholen. Ich wünsche Ihnen frohe Feiertage.«
Nadine kamen die Tränen, und der Mann dachte, sie sei extrem gerührt über sein Geschenk. Dabei hätte sie ihm den Korb am liebsten an den Kopf geworfen, denn der half auch nicht, ihre Geldprobleme zu lösen.
Diese Probleme löste dafür ihre alte Mutter, indem sie nach Weihnachten starb. Als der Winzer am ersten Januar bei ihr vor der Tür stand, um sie nach Arles mitzunehmen, sagte Nadine: »Vielen Dank, Monsieur Perrin, aber ich werde nicht mitfahren. Meine Mutter liegt inzwischen auf dem Friedhof.«
Sie sah das Entsetzen im Gesicht dieses selbstsüchtigen, egozentrischen Mannes, als er fragte: »Soll das heiÃen, ich muss allein nach Arles fahren?«
Nadines hübsches Gesicht verfinsterte sich, und sie erwiderte kühl: »Und ich dachte schon, Sie würden zur Abwechslung mal an mich denken und mir Ihr Beileid aussprechen.«
Jean-Marie sah sie verblüfft an und stammelte dann: »Entschuldigen Sie bitte. Natürlich, mein Beileid ⦠Na gut, also einen schönen Sonntag noch!« Dann machte er auf dem Absatz kehrt, stieg in seinen Wagen und fuhr davon.
Léonie hatte alles mit angehört und fragte: »Ist das der Verehrer, der uns die Delikatessen geschenkt hat?«
»Das ist er, und er ist sehr reich. Und trotzdem tut er nichts für uns. Aber ich hoffe, dass mein Lohn von nun an für uns reichen wird.«
In den letzten Monaten hatte Nadine von einem schönen Leben an der Seite des reichen Monsieur Perrin geträumt. Doch wieder hatte sie umsonst gehofft. Er hatte nicht einmal bemerkt, wie begehrenswert sie war.
Er hatte nie etwas gesagt oder getan, um sein Interesse an ihr zu bekunden. Er wollte nur, dass sie ihm auf der Fahrt zu seiner Mutter Gesellschaft leistete. Für all die Stunden, die sie Sonntag für Sonntag geopfert hatte, hatte sie nichts als einen Weihnachtsfresskorb bekommen.
»Stell dir vor, und ich war so blöd, mich schon als zweite Frau von Monsieur Perrin zu sehen! Ich habe alles versucht, ehrlich«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Ich habe mich benommen wie ein naives Schulmädchen, um ihm zu gefallen. Stell dir bloà vor, Léonie, ich habe ihm alles von mir erzählt, weil ich ein neues Leben beginnen wollte. Und jetzt weià ich, dass mir der Kerl nicht mal zugehört hat. Was für ein Widerling, genau wie alle anderen reichen Leute!«
Léonie
Weitere Kostenlose Bücher