Bei Anbruch des Tages
meiste Zeit hier, vor allem jetzt in den Ferien«, meinte Thérèse.
»Bitte setz dich und lass dir von mir Suppe auftragen«, forderte Léonie die alte Dame auf. »Nimm mich ganz zu dir! Meine Mutter kümmert sich nicht um mich, und ihre Träume werden sich niemals bewahrheiten. Sie will mich bloà aus dem Weg haben.«
Léonies Worte rührten Thérèse. Die Kleine liebte sie wie eine GroÃmutter. Dieses Mädchen wurde viel zu schnell erwachsen, und zwar auf eine sehr schmerzhafte Art.
»Wenn ich dich zu mir nehme, ist das eine sehr groÃe Verantwortung«, erklärte sie.
»Aber ich kann dir helfen. Jetzt, da Ninette nicht mehr lebt, könnte ich mit dir zusammen Lavendel verkaufen. Gemeinsam könnten wir gute Geschäfte machen.«
»Ich denk drüber nach!«, versprach Thérèse.
Langsam aÃen sie die Suppe, die zwar nicht perfekt war, aber zumindest essbar.
Und so kam es, dass Léonie mit acht Jahren eine ausgezeichnete Lavendelverkäuferin wurde. Der Charme, mit dem sie die SträuÃchen den Touristen aus aller Welt feilbot, brachte ihr ihr erstes selbst verdientes Geld ein. Léonie sah in ihrem farbenfrohen pro venzalischen Rock entzückend aus â fast wie eine Puppe. Ihr strahlen des Lächeln lieà sie glücklich wirken. Und in diesem Sommer war Léonie tatsächlich glücklich.
Es kam vor, dass die Leute ihr mehr Geld zusteckten, als sie für die SträuÃchen verlangte, dass sie jemand besonders gerührt musterte. Viele hielten Thérèse für ihre GroÃmutter und gratulierten ihr zu ihrer reizenden Enkelin.
Eines Abends hatte Léonie eine Begegnung, die ihr Leben verändern sollte: Sie trat an einen Tisch, an dem eine groÃe italienische Familie saÃ, und bot ihre Lavendelsäckchen an. Eine der Damen, die gebrochen Französisch sprach, sagte, sie wolle sie alle mitsamt dem geflochtenen Korb.
Léonie sah sie verblüfft an und fürchtete, sie nicht richtig verstanden zu haben. Doch die junge Frau fragte immer wieder: »Combien, combien?«
»Der Korb ist nicht zu verkaufen«, beharrte Léonie. Die Frau verstand nicht. Sie fragte, ob sie Englisch spreche, aber das Mädchen sprach nur Provenzalisch und Französisch. In diesem Moment schaltete sich Thérèse ein.
»DreiÃig Säckchen Lavendel und das Körbchen ⦠macht zweihundert Francs«, sagte sie rasch.
Es war ein Mann, vermutlich der Ehemann der Dame, der Thérèse das Geld in die Hand drückte, während ein Mädchen die kleine Blumenverkäuferin fragte: »Comment tâ appelles-tu?«
»Léonie«, erwiderte sie und fragte zurück: »Et toi, comment tu tâ appelles?«
»Daniela.«
»Danielle?«
»Nein, Daniela«, beharrte die kleine Italienerin.
»Ciao, Daniela!«, verabschiedete sich Léonie.
»Willst du ein Erdbeereis?«, fragte Daniela und zeigte auf das vor ihr stehende Schälchen.
»Glace à la fraise«, sagte Léonie und dann, »non, merci«, da es sich nicht gehörte, sich zu reichen Touristen an den Tisch zu setzen.
Inzwischen waren die anderen Kinder am Tisch auf die kleine Lavendelverkäuferin aufmerksam geworden, und Thérèse flüsterte: » Ma petite , bedank dich, und dann gehen wir.«
Aber Danielas Mutter beharrte in ihrem gebrochenen Französisch auf der Einladung, weil sie Mitleid mit Léonie hatte.
»Lassen Sie sie doch ein Eis mit den Kindern essen!«
»Es ist schon spät, wir müssen wieder nach Hause«, erwiderte Thérèse.
»Grand-maman, je tâ en prie«, bettelte Léonie und nannte sie auf einmal GroÃmutter.
Danielas Mutter versprach, Léonie nach Hause zu bringen, wenn das Kind noch eine Weile bei ihrer Tochter und den anderen Kindern bleiben dürfe.
Léonie erzählte, dass sie Waise sei und bei der GroÃmutter lebe. Diese verkaufe im Sommer Blumen, um ihre Schulbücher bezahlen zu können. Und das waren nicht die einzigen Lügen, die sie den Italienern auftischte. Thérèse wartete zu Hause auf sie, und als die Italiener sie brachten, hatten die beiden Mädchen ihre Adressen ausgetauscht und sich feierlich versprochen zu schreiben: die eine auf Französisch und die andere auf Italienisch. Auf diese Weise würde jede die Sprache der anderen lernen. Und so kam es, dass sich Daniela Pallavicini mit Léonie Tardivaux
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