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Bei Anbruch des Tages

Bei Anbruch des Tages

Titel: Bei Anbruch des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sveva Casati Modignani
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viel über sie erfahren. Jetzt sagte sie: »Komm mit!«
    Sie führte Léonie hinaus und sagte zu den anderen Schülerinnen: »Schreibt weiter an euren Aufsätzen und seid leise!«
    Als sie draußen auf dem von Blumenbeeten gesäumten Schulhof standen, forderte sie ihre Schülerin auf, sich zu ihr auf eine Bank zu setzen, und fragte: »Schreibst du deshalb nichts, weil du glaubst, nichts zu erzählen zu haben?«
    Léonie nickte.
    Â»Aber ich bin mir sicher, dass du viel interessantere Dinge zu erzählen hast als deine Klassenkameradinnen! Weil du nicht weggefahren bist, glaubst du, unterlegen zu sein. Dabei bist du den anderen mit deiner Intelligenz, deiner raschen Auffassungsgabe und deiner Sensibilität weit voraus! Wenn man ein großes Abenteuer erleben will, muss man nicht um die Welt reisen. Weißt du, was ich denke? Die interessantesten Abenteuer sind die, die du erlebt hast. Denn du hast bestimmt ein Buch gelesen, Geschichten von deinen beiden alten Nachbarinnen gehört …«
    Â»Eine der beiden, Ninette, ist gestorben«, sagte das Mädchen schüchtern.
    Â»Siehst du, da hast du dein Thema!«
    Â»Ich habe ein italienisches Mädchen kennengelernt. Sie heißt Daniela. Sie ist sehr nett und hat mir schon aus einer italienischen Stadt namens Mailand geschrieben. Ihr Brief ist auf Italienisch, und mit Thérèses Hilfe, die ein wenig Italienisch kann, habe ich ihn gelesen und verstanden. Also habe ich ihr auf Französisch zurückgeschrieben, weil wir uns das so geschworen haben.«
    Â»Gehen wir zurück ins Klassenzimmer. Dort beginnst du sofort mit deinem Aufsatz!«, sagte die Lehrerin ermutigend.
    Léonie schrieb und schrieb – vier Heftseiten voll. Am Tag darauf verkündete die Lehrerin vor der ganzen Klasse, dass Léonie den schönsten Aufsatz geschrieben habe.
    An diesem Abend erzählte das Mädchen alles seiner Mutter, die zerstreut zuhörte und dann sagte: »Mit deiner Schwärmerei für die Lehrerin kommen wir auch nicht über den Winter! Den Mann, den du nicht mochtest, gibt es nicht mehr. Deshalb werde ich jetzt freitags und samstags in einer Bar arbeiten müssen. Du übernachtest dann bei Thérèse, denn ich werde spät nach Hause kommen.«
    Der Stolz, den das Mädchen eben noch empfunden hatte, war verpufft. Sie fühlte sich wieder als Last für ihre Mutter und weinte sich in den Armen der alten Thérèse aus.
    Doch dann geschah etwas. Als Nadine eines Sonntags von ihrem Besuch bei der Mutter zurückkehrte, sagte sie: »Ich habe einen reichen Herrn kennengelernt. Diesmal werde ich es schlau anstellen und meine Trümpfe richtig ausspielen.«

5
    E r hieß Jean-Marie Perrin, war Winzer und besaß mehrere Hektar Weinberge. Er war etwas über vierzig, Witwer und hatte zwei erwachsene Söhne, die in Paris studierten. Glaubte man Léonie, war er hässlich wie die Nacht und unglaublich unsympathisch.
    Nadine hatte ihn in Arles kennengelernt, im Krankenhaus, in das auch er regelmäßig fuhr, um seine Mutter zu besuchen.
    Sie waren sich im Park der Klinik begegnet, wo sie beide die Rollstühle ihrer Mütter auf einer kleinen Allee zu einem Brunnen geschoben hatten.
    Jean-Maries altersdemente Mutter war deutlich pflegeleichter als die Nadines, die nur mit Medikamenten ruhigzustellen war.
    Anfangs hatten sie sich knapp gegrüßt und nur ein paar Worte gewechselt. Aber seit dem Beginn des Sommers hatten sie sich mehr erzählt. Der Winzer war ein redseliger Mensch, der seinem Gegenüber nicht wirklich zuhörte. Nadine hatte gleich gemerkt, dass er ein egozentrischer Mann mit einer auffälligen Schwäche für seine Mutter war.
    Â»Sie ist jetzt schon seit fünf Jahren in diesem Zustand! Vier Jahre lang hatte ich sie zu Hause. Ich hatte zwei Krankenschwes tern, die sich abgewechselt haben. Aber sie ist sehr schlau. Ein kur zer Moment der Ablenkung genügt, und sie haut ab. Letztes Jahr ist sie wie durch ein Wunder gerettet worden, als sie auf der Terrassenbrüstung herumgeklettert ist. Ich bin viel auf Reisen und brauche Ruhe beim Arbeiten. Deshalb habe ich mich dazu durchgerungen, sie in diese Klinik zu geben, wo die Fenster vergittert sind. Es schmerzt mich, sie hier zu wissen anstatt bei uns zu Hause, aber das verstehen Sie bestimmt!«
    Nadine hatte das nur für eine hohle Phrase gehalten, gedacht, dass der Mann überhaupt nicht verstanden

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