Bei Anbruch des Tages
zusammen mit einer kleinen Schwarz-WeiÃ-Fotografie aufbewahrt, die sie als Kind neben ihrer Mutter zeigte.
Ein Kindheitsfoto mit der Alkoholikermutter und ein kleiner Blumenstrauà waren Nadines einzige Verbindung zur Vergangen heit, das Einzige, was ihre wahren Gefühle widerspiegelte. Léonie nahm das Foto und die Blumen und ging in den Flur, wo Monsieur Perrin auf sie wartete.
»Das sind die persönlichen Gegenstände meiner Mutter, die ich mitnehme«, verkündete sie.
»Und was ist mit dem Rest?«, fragte er.
»Meinen Sie den Schmuck, den Sie schon in Sicherheit gebracht haben? Oder den umgearbeiteten Nerz von Ihrer ersten Frau? Ich wäre Ihnen dankbar, wenn mich irgendjemand nach Hause bringen könnte, denn der Bus nach Salon geht nur alle paar Stunden, und ich will keine Minute länger bleiben.«
Der Gutsverwalter fuhr sie. Zu Hause kochte Léonie eine leckere Zwiebelsuppe, die sie sich mit ein paar Scheiben gerösteten Brots schmecken lieÃ. Das war ihre Art, von ihrer Mutter Abschied zu nehmen.
10
T rotz aller Fehler Nadines war sie doch Léonies Bezugs person gewesen und nach dem Tod von Ninette und Thérèse der wichtigste Mensch in ihrem Leben. So stürzte Léonie nun, nachdem es ihre Mutter nicht mehr gab, in tiefe Einsamkeit.
Mit gerade mal achtzehn Jahren hatte sie keinerlei Familie mehr. Sie sprach mit dem Postdirektor.
»Ich brauche Urlaub.«
»Das kann ich verstehen. Du musst wieder neuen Lebensmut schöpfen. Man hat nur eine Mutter«, erwiderte er väterlich. »Nimm dir einen ganzen Monat Zeit, ich werde schon dafür sorgen, dass du dein Gehalt trotzdem ausgezahlt bekommst.«
Am Abend zuvor hatte sie in ihrer Verzweiflung ihre Freundin Daniela angerufen und ihr erzählt, was vorgefallen war und auch, wie unmöglich sich der Mann ihrer Mutter benommen hatte. Daraufhin hatte Daniela gesagt: »Nimm den nächsten Zug und komm nach Mailand. Verbring etwas Zeit mit uns.« Léonie hatte die Einladung sofort angenommen.
Sie hob das Geld, das Thérèse ihr vermacht hatte, von ihrem Konto ab. Es war keine groÃe Summe, aber einen Monat lang würde sie damit schon über die Runden kommen. Dann ging sie auf den Friedhof. Ihre Mutter war in der Gruft der Familie Perrin bestattet worden. Noch war ihr Name nicht dort eingraviert worden. Léonie legte dort den vertrockneten Blumenstrauà nieder, den sie ihrer Mutter zur Hochzeit geschenkt hatte, murmelte ein Gebet und kehrte nach Hause zurück.
Sie packte ihren Koffer, und am Morgen darauf verlieà sie Salon.
Im Zug weinte sie lange um ihre Mutter, aber auch, weil sie sich so einsam und verloren fühlte.
Als sie in Mailand ankam, dämmerte es bereits. Daniela erwartete und umarmte sie und zeigte ihr stolz ihr neues Auto.
»Ich habe erst vor Kurzem den Führerschein gemacht, bin aber die geborene Autofahrerin«, sagte sie und legte Léonies Gepäck auf den Rücksitz, da der Kofferraum zu klein dafür war.
»Das ist mein gesamter Besitz«, verkündete Léonie. »Aber keine Angst, ich werde mich nicht häuslich bei dir niederlassen. Ich möchte nur mein Zuhause dabeihaben.«
»Hör zu, Léonie, gib den Glauben an eine bessere Zukunft nicht auf! Meine Familie freut sich, dich hier zu haben, und wir werden alles tun, damit es dir wieder besser geht«, versuchte sie, Léonie aufzumuntern, während sie ihren Kleinwagen im Zickzackkurs durch den Verkehr lenkte und zur Via Boccaccio fuhr, in der sich der Palazzo der Familie Pallavicini befand. Dann verkündete sie ihre Neuigkeiten.
Sie erzählte Léonie von ihrem Freund, der gerade sein Medizinstudium beendet hatte und sich auf Augenheilkunde spezialisieren wollte.
»Er heiÃt Damiano und macht gerade ein Praktikum bei meinem Vater. Ich kann es kaum erwarten, ihn dir vorzustellen! Er sieht umwerfend aus, ist unglaublich lieb, und ich bin hoffnungslos in ihn verknallt. Ich selbst werde gegen die Familientradition verstoÃen und Archäologie studieren. Ich liebe die Antike, und die Vorstellung, in der Vergangenheit zu forschen, begeistert mich. Aber vorher muss ich mich anstrengen, um das Abitur zu bestehen.«
»Dann stehle ich dir nur kostbare Zeit«, sagte Léonie kleinlaut.
»Du bist gekommen, um mir zu helfen. AuÃerdem habe ich schon alles geplant: Tagsüber gehe ich zur Schule, und dann muss ich lernen. Aber abends lasse ich mir
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