Bei Anbruch des Tages
keinen Film und keine an dere Veranstaltung entgehen. Am Wochenende vergesse ich meine Pflichten und amüsiere mich. Du wirst also tagsüber mit meiner Mutter vorliebnehmen müssen, aber die Abende verbringen wir gemeinsam. Du musst besser Italienisch lernen, und dieser Mailänder Intensivkurs wird dir dabei helfen.«
Alle nahmen sie liebevoll auf, und Léonie hatte beinahe das Gefühl, zur Familie zu gehören.
Daniela teilte ihr Zimmer mit ihr, und abends vor dem Einschlafen plauderten die Freundinnen und schmiedeten Pläne. Mal abgesehen von ihrer lang anhaltenden Freundschaft, hatten sie nicht viel gemeinsam. Und trotzdem hatten sie die gleichen Träume: Beide wollten sie ihr Glück machen, sehnten sich nach einem Leben voller Liebe und Abenteuer.
Léonie war bereits zwei Wochen in Mailand, als Daniela ver kündete: »Morgen Nachmittag sind wir auf ein Dorffest im Hinter land eingeladen. Ein Freund von Damiano, Guido Cantoni, gibt eine Art Empfang im Park seiner Villa, um seinen ersten Vertrag mit der RAI zu feiern: Er hat einen kurzen Roman geschrieben, der fürs Fernsehen verfilmt wird.«
»Er ist also ein erfolgreicher Autor?«, fragte Léonie.
»Ehrlich gesagt weià ich das gar nicht. Ich weià nur, dass er aus einer Industriellenfamilie stammt und meinen Freund noch aus dem Gymnasium kennt. Er soll in einem fantastischen Haus mit einem groÃen Park leben. Wir werden uns amüsieren«, versicherte ihr Daniela.
An diesem Tag lernten sich Guido und Léonie kennen, und sie kehrte nicht mehr nach Frankreich zurück.
Léonie trug einen weit ausgestellten tiefblauen Rock und eine smaragdgrüne Bluse, die ihren dunklen Teint und ihren schwarzen Pagenkopf betonte. Aber noch mehr als von ihrer zierlichen Figur, ihrer schmalen Taille und den wohl gerundeten Brüsten war Guido von ihrem sanften und zugleich energischen Gesichtsausdruck beeindruckt sowie von ihrer lebhaften, aufgeweckten Art.
»Du bist also das provenzalische Mädchen, von dem mir Da miano erzählt hat!«
»Ich fühle mich eher provinziell als provenzalisch, denn das bin ich auch«, gestand Léonie, während sie leicht errötete.
»Verlier nie deine erfrischende Unschuld!«
»Und wenn, würdest du es nie erfahren, weil ich in wenigen Tagen nach Salon zurückkehren werde«, erwiderte sie.
»Nach Salon? Wo liegt denn das?«
»In der blühenden, romantischen Provence.«
»Die kenne ich. Ich war mehrmals dort, als ich mich mit der Geschichte der Päpste und der französischen Könige beschäftigt habe. Aber an Salon kann ich mich nicht erinnern.«
»Warum auch? Die Einwohner von Avignon verachten Salon, den hässlichsten Ort in der ganzen Provence.«
»Und du willst Italien verlassen, um dorthin zurückzugehen?«
»Ich will nicht, aber ich muss.«
»Weil deine Familie dort auf dich wartet«, schlussfolgerte er.
»Ich habe keine Familie mehr, aber eine Arbeit.«
»Wollen wir an einem der nächsten Abende zusammen ausgehen?«, schlug Guido vor, ohne weiter darüber nachzudenken.
Léonie beobachtete Danielas Freundinnen und Freunde neugie rig, und ihr fiel auf, wie anders sie doch waren. Sie kleideten und benahmen sich auf eine Art, die ihr fremd war. Manche Mädchen musterten sie ein wenig abschätzig aus den Augenwinkeln, was sie in Verlegenheit brachte. Nur der junge Hausherr mit dem Benehmen eines wahren Gentlemans hatte ein aufrichtiges Interesse an ihr gezeigt. Als sie nach Villanova gefahren waren, hatte Danielas Verlobter ihnen von den Cantonis erzählt. Ãber Guido hatte er gesagt: »Vor einem Jahr hat er sich aus einer zerstörerischen Beziehung befreit. Aber er leidet noch immer.«
Im Moment beobachtete sie, wie er sich ungezwungen mit einem jungen Paar unterhielt.
»Wenn ich das sagen darf: Sie sind der anmutigste Gast heute«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Sie fuhr herum und stand einem Bediensteten gegenüber, der ihr ein Tablett mit Erfrischungsgetränken hinhielt.
»Das ist nett von Ihnen, Monsieur«, erwiderte Léonie und errötete.
»Ich bin Nesto und arbeite schon seit Langem für die Familie Cantoni. Bitte entschuldigen Sie, dass ich mir erlaubt habe, Ihnen ein Kompliment zu machen. Und jetzt möchte ich Ihnen dieses köstliche Getränk aus Erdbeeren aus unserem Garten empfehlen.«
Daniela kam und hakte sich bei Léonie
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