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Bei Anbruch des Tages

Bei Anbruch des Tages

Titel: Bei Anbruch des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sveva Casati Modignani
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auf den Tisch. »Dafür, dass man mich in diesem Haus respektiert, muss ich einen hohen Preis zahlen. Ich brauche all meine Überredungskünste, damit er ausnahmsweise mal ein bisschen Geld lockermacht, mich nach Paris mitnimmt oder abends Musik mit mir hört. Am liebsten wäre ihm, ich würde im Sessel sitzen und stricken, so wie seine bemitleidenswerte erste Frau.«
    Â»Und was wäre, wenn du ihm einfach nicht mehr ständig Gesellschaft leistest, wie er es sich wünscht?«, fragte Léonie.
    Â»Keine Ahnung, das will ich lieber nicht ausprobieren. Wenn ich sein dummes Gerede nicht mehr ertrage, nehme ich eine Beruhigungstablette. Jeden Abend schlafe ich in der Hoffnung ein, dass es am nächsten Tag besser wird.«
    In diesem Winter starb plötzlich die alte Thérèse, obwohl Léonie sich schon darauf gefreut hatte, Weihnachten mit ihr zusammen zu verbringen.
    Im Frühling bekam sie einen Brief von der Post. Darin stand, dass die Filiale in Salon sie einstellen würde.
    Die Arbeit im Restaurant gab sie trotzdem nicht auf. Also stand sie tagsüber hinter dem Postschalter, und abends half sie dem Koch in der Küche des Château .
    Die jungen Männer, die mit ihr ausgehen wollten, hielt sie auf Distanz. Manchmal sagte sie sich: Irgendwo auf der Welt lebt vielleicht der Mann, den ich einmal heiraten werde.
    Wie er wohl aussieht? Ist er blond oder braunhaarig? Gut aussehend oder eher hässlich? Wie klingt seine Stimme, was denkt er? Wo lebt er gerade? Studiert er oder arbeitet er? Geht er gern ins Kino, oder liest er lieber ein Buch? Ist er reich oder genauso arm wie ich? Werde ich ihn lieben? Und wird er mich lieben?
    Wenn ihr ein junger Mann wegen seines Aussehens oder seines Charakters gefiel, fragte sie sich: Ist er das? Aber jedes Mal sagte ihr Instinkt ihr schon kurz darauf, dass dies nicht der Mann ihres Lebens war.
    Eines Tages, als sie wie immer hinter dem Postschalter stand, rief Monsieur Perrin an.
    Â»Deine Mutter hatte in Avignon einen Autounfall. Sie ist tot.« Da Léonie wie betäubt schwieg, fügte er noch hinzu: »Sie wird gerade im Krankenhaus aufgebahrt, falls du sie noch einmal sehen möchtest.«
    Der Mann hatte bereits aufgelegt, doch Léonie hielt nach wie vor den Hörer umklammert. Nach dieser Nachricht, die ihr noch dazu so schonungslos mitgeteilt worden war, fühlte sie sich wie gelähmt.
    Zwei Tage später nahm sie der zum zweiten Mal verwitwete Monsieur Perrin nach der Beerdigung in seine Villa mit.
    Unterwegs sagte er: »Nadine hat darauf bestanden, ein eigenes Auto zu haben. Ich habe sie gewarnt, dass sie viel zu unkonzentriert zum Fahren ist. Aber sie wollte nicht auf mich hören! Wieso musste sie unbedingt nach Avignon zum Einkaufen? Diese junge Frau hatte nichts als Flausen im Kopf, die übertriebensten Ansprüche. Erst neulich hatte sie die Idee, Weihnachten in den Bergen zu feiern, weil sie Skifahren lernen wollte. Nun, jetzt ist es vorbei. Und wie stehe ich jetzt da? Ihretwegen bin ich jetzt wieder allein!«
    Â»Ist Ihnen gar nicht in den Sinn gekommen, dass meine Mutter lieber tot sein wollte, anstatt noch länger einen Mann wie Sie zu ertragen?«, fragte Léonie streng.
    Â»Wenn du meine Tochter wärst, würde ich dir jetzt eine Ohrfeige verpassen!«, sagte er und hielt vor der Villa.
    Â»Aber zum Glück bin ich das nicht!«, erwiderte sie und stieg aus.
    Sie hatte eingewilligt, mit zur Villa zu fahren, weil ihr Stiefvater sie gebeten hatte, die persönlichen Dinge ihrer Mutter abzuholen.
    Er begleitete sie ins Haus und sagte: »Komm bloß nicht auf komische Gedanken! Nicht dass du glaubst, hier gäbe es etwas zu erben. Deiner Mutter haben nicht mal die Kleider gehört, die sie am Leib trug. Aber die kannst du von mir aus haben, genau wie all die teure Spitzenunterwäsche.«
    Sie sagte nichts darauf und folgte ihm schweigend ins Schlafzimmer mit dem prunkvollen Bett, in dem Nadine noch bis zwei Tage zuvor geschlafen hatte.
    Der Mann ließ sie allein, und sie sah sich um. Sie starrte auf die Parfüms und Schönheitscremes auf dem Schminktisch, betrachtete die im Schrank hängenden Kleider, lächelte über die Puppensammlung auf dem Kaminsims, öffnete die Schubladen mit der Seidenunterwäsche und entdeckte darin ganz weit hinten ein getrocknetes Blumenbouquet aus Lavendel und weißen Röschen. Es war ihr Hochzeitsgeschenk, und Nadine hatte es

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