Bei Anbruch des Tages
hatte sie beinah schon wieder vergessen. Dieses Glücksgefühl würde während der Stillmonate anhalten, und erst beim Abstillen würde dieses Bedürfnis nach Nähe einer gelasseneren Mutterliebe weichen.
Diesmal war die Geburt auf den Termin ihrer Verabredung in Varenna gefallen. Aber das Glück, ihre Kleine im Arm zu halten, verhinderte, dass Léonie allzu sehr unter dem verpassten Treffen mit Roger litt.
Beim Gedanken an seine Worte musste sie lächeln: »Bitte bring dein viertes Kind nicht kurz vor oder nach unserem nächsten Treffen zur Welt.« Jetzt würde sie ein Jahr bis zum kommenden Dezember warten müssen. Aber das war es wert gewesen, denn so nah wie in den letzten Monaten waren Guido und sie sich noch nie gewesen.
Dieser stille und geheimnisvolle Mann hatte sich ihr gegenüber endlich geöffnet â etwas, worauf sie seit ihrer Hochzeit gewartet hatte.
Nachdem sie die Kleine von der Brust genommen hatte, legte Léonie sie vorsichtig zurück in die Wiege, ging wieder ins Bett und schlief mit einem Lächeln ein.
Kurz darauf näherte sich Roger ihrer Zimmertür. Er hatte einen recht turbulenten Tag hinter sich. In Varenna hatte ihm die Hotelbesitzerin Léonies Botschaft ausgerichtet.
»Oh nein, nicht schon wieder!«, hatte er lächelnd gerufen. In ihrer unberechenbaren, amüsanten Art war Léonie wirklich einmalig!
Da hatte er beschlossen, den freien Tag mit Skifahren zu verbringen. Er mietete sich Ski, weil er seine eigenen nicht mitgenommen hatte. Doch später wollte er sich unbedingt persönlich davon überzeugen, dass alles gut gegangen war.
Er stieg in den Wagen und fuhr nach Mailand. Unterwegs legte er eine kurze Pause ein, um in einem kleinen Restaurant, das ihm ein Mailänder Kollege empfohlen hatte, etwas zu essen.
Bevor er sich zu Tisch setzte, schaute er ins Telefonbuch, fand die Nummer der Klinik und rief am Empfang an.
»Ich habe einen Strauà Blumen für Signora Tardivaux zu überbringen. Können Sie mir ihre Zimmernummer nennen?«
Nach dem Mittagessen erreichte er die Klinik. Er stellte seinen Wagen ab und machte zuerst einen langen Spaziergang durch die Innenstadt, in der wegen des bevorstehenden Weihnachtsfests sehr viel los war. SchlieÃlich kehrte er zur Klinik zurück, ging in den dritten Stock und nahm im Wartebereich vor Léonies Zimmer Platz.
Von dieser privilegierten Warte aus beobachtete er, wer kam und ging.
Er sah die vielen BlumensträuÃe an sich vorbeiziehen, die von Boten abgegeben und von den Schwestern mitgenommen wurden.
Er sah einen distinguierten Herren, der das Zimmer mit einem kleinen Mädchen verlieÃ, und schloss daraus, dass es sich um Léonies Mann und das dritte Kind handeln musste.
Es war schon spät, als niemand mehr das Zimmer betrat oder verlieÃ. Da öffnete er mit klopfendem Herzen die Tür und sah Léonie und das Neugeborene in der Wiege.
Beide schliefen tief und fest. Er hätte gern ihr Gesicht gestreichelt, sie auf die Stirn geküsst, wollte sie jedoch nicht wecken. Es ging ihr gut, und mehr brauchte er nicht zu wissen. Auf Zehenspitzen verlieà er das Zimmer, die Klinik, die Stadt, Léonies Welt und suchte sich ein Hotel. Am nächsten Tag würde er nach Marseille zurückkehren.
3
E s war einer dieser Februartage, die den Frühling ankündigten, trotz des Nordwinds, der im Gesicht brannte wie eisige Nadeln. Die Natur erwachte allmählich aus ihrem langen Winterschlaf.
Der alte Nesto hatte bereits die Handwerker gerufen und war mit ihnen aufs Dach der Villa gestiegen, um sich einen Ãberblick über die Schäden zu verschaffen, die die heftigen Schneefälle im Januar angerichtet hatten. Der Fensterbauer, der Klempner und der Elektriker waren ebenfalls gekommen.
Der Raumausstatter hatte den Auftrag bekommen, einen Kostenvoranschlag für einige neue Tapeten und Vorhänge zu machen. Der Parkettleger hatte den Preis für die Ausbesserung alter Böden geschätzt und der Kunsttischler den für das Einziehen einer Kassettendecke.
»Jetzt ist der Moment gekommen, den Winter zu verjagen«, sagte Nesto, der sich inmitten dieses hektischen Treibens so flink wie ein junger Mann bewegte.
Léonie hatte nach und nach wieder angefangen, in der Firma zu arbeiten, und Guido hatte das Pendeln zwischen Villanova und Rom wieder aufgenommen.
Giuseppe, der in die erste Klasse der Grundschule ging, war eines
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