Bei Anbruch des Tages
hämischen Lächeln.
Alle Familien- und Fabrikangehörigen wussten, dass Léonie am zweiundzwanzigsten Dezember, am Tag der Wintersonnenwende, den Wagen nahm und fortfuhr. Nachmittags war sie dann wieder zu Hause. Niemand wusste, wo sie den Tag verbrachte. Alle, ja, sogar ihr Mann, hatten diese Extravaganz stets geduldet, ohne je nachzufragen oder sie zu kommentieren.
Aber an diesem Morgen hatte Guido es ihr zum ersten Mal schwergemacht.
Nesto servierte dem Hausherrn ungerührt schweigend das Frühstück und stellte sich hinter ihn, bereit, ihm beim geringsten Hinweis zur Hand zu gehen.
»Giuditta kommt heute Nachmittag. Wer holt sie vom Flughafen ab?«, fragte Guido seine Frau.
Giuditta war die jüngste Tochter. Sie ging auf ein sehr exklusives Schweizer Internat und würde die Feiertage wie die anderen über die ganze Welt verstreuten Kinder bei den Eltern verbringen.
»Ich bestimmt nicht, und das weiÃt du genau!«, erwiderte Léonie.
»Ich habe heute einen wichtigen Termin mit einem Regisseur ⦠aber wenn du partout nicht kannst â¦Â«
Léonie legte die Serviette auf den Tisch, sah ihrem Mann in die Augen und fragte betont gelassen: »Was willst du mir damit sagen, Guido?«
Er wirkte wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückzog. Dann lächelte er, legte eine Hand auf die seiner Frau und sagte: »Gar nichts, mein Schatz. Alles bestens.«
»Aber wollte sie nicht zusammen mit den anderen am vierundzwanzigsten kommen?«, fragte sie.
»Seit wann tun Kinder das, was wir von ihnen erwarten?«, brummte der Alte und warf seinem Sohn einen vielsagenden Blick zu.
Nach dreiÃig Jahren hatte er seinem einzigen Sohn immer noch nicht verziehen, dass er aus dem Familienunternehmen ausgeschieden war.
Dann fügte er hinzu: »An Heiligabend heiÃt es wieder: The same procedure as every year. Ich habe vor, den Abend im Club zu verbringen. In kleinem, aber exklusivem Kreis.«
Er meinte den berühmten Mailänder Club, dessen Vorsitzender er war.
»Das wissen wir bereits, papà . Das sagst du jedes Mal, und dann feierst du doch mit der Familie und freust dich, wenn deine Enkel dich tyrannisieren«, erwiderte Guido.
Léonie stand auf, trat neben ihren Schwiegervater und küsste ihn auf die Wange. »Noch einen schönen Tag, papà ! Pass gut auf dich auf«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln.
»Du auch, meine kleine Hexe!«, murmelte der Alte beinahe zärtlich.
Als er nach dem zweiten Infarkt in die Firma zurückgekehrt war, hatte Léonie ein Fest für ihn organisiert: Die Arbeiter hatten ihm einen Blumenstrauà überreicht und auf seine Rückkehr angestoÃen. Er hatte eine im Vorfeld mit der Schwiegertochter besprochene Rede gehalten. In wenigen Worten hatte er verkündet, dass Léonie Cantoni während seiner Erkrankung eine alles andere als leichte Aufgabe gemeistert hatte: Sie hatte die Firma allein geleitet, und das in einer Phase, in der bereits die ersten Anzeichen der Rezession zu spüren waren. AnschlieÃend hatte er sie zur Vizepräsidentin von Cantoni-Armaturen ernannt. Da Léonie sich die Anerkennung und den Respekt aller erarbeitet hatte, war die Ankündigung des Cavaliere mit ausdauerndem Applaus aufgenommen worden. In Wahrheit hatte die Machtübergabe längst stattgefunden, denn Léonie hatte die Zügel bereits nach dem ersten Infarkt des Schwiegervaters in die Hand genommen und erfolgreiche Neuerungen eingeführt. Nach dem Applaus hatte der Cavaliere erneut das Wort ergriffen und mit einem Blick auf die Schwiegertochter gefragt: »War es das, was du wolltest?«
Kein bisschen eingeschüchtert, hatte Léonie erwidert: »Das Schöne an unserer Beziehung ist, dass wir genau das Gleiche wollen, papà . Nur, dass du der Präsident bist und ich bloà Vizepräsidentin.«
Erneut wurde applaudiert, und die »Signora« hatte einen Blumenstrauà erhalten.
Jetzt flüsterte ihr der Alte ins Ohr: »Werde ich es noch schaffen, dir vor meinem Tod zu entlocken, wohin du jeden zweiundzwanzigsten Dezember aufbrichst?«
»Da üb dich lieber mal in Geduld! Es wird nämlich noch viele Jahre dauern, bis dieser Moment gekommen ist«, flüsterte sie amüsiert.
»Habt ihr jetzt genug getuschelt?«, unterbrach Guido sie.
»Jetzt werd nicht eifersüchtig, das ist doch sonst gar nicht deine Art«, erwiderte seine
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