Bei Anbruch des Tages
Haltung der Kirche nicht infrage stellen. Du begehst eine Sünde.«
»Dann erklären Sie mir bitte, warum ich in meinem tiefsten Innern fest davon überzeugt bin, dass es keine ist!«, widersprach sie.
»Wie könnte Gott deine Liebe gutheiÃen, wenn du selbst voller Zweifel bist? Du fragst dich, ob er tatsächlich der Mann deines Lebens ist oder ob es nicht doch noch irgendwo einen anderen gibt, der für dich bestimmt ist. Darum ist es eine Sünde, wenn du dich Guido hingibst.«
»Aber ich zweifle an allem, Vater. Ich zweifle daran, dass die Sonne morgen wieder aufgeht, dass Kinder ein Geschenk sind, dass ich heute Abend Minestrone essen werde, dass Gott mich sieht und mir zuhört. Ja, ich zweifle sogar daran, dass Gott existiert, obwohl ich ihn so dringend brauche. Ich zweifle an Guidos Liebe für mich und meiner für ihn, weil ich noch nie etwas Ãhnliches empfunden habe. Wir fühlen uns leidenschaftlich zueinander hingezogen, und das schon von klein auf. Und wenn wir uns lieben, bin ich glücklich.«
»Erzähl das bitte nicht einem alten Pfarrer!«, entfuhr es Don Tranquillo.
»Sehen Sie? Aber wenn nicht Ihnen, wem dann? Warum ist die Kirche so weit weg von den Menschen, insbesondere von denen, die wie ich nach Antworten suchen?«
»Die Kirche weiÃ, was gut und was schlecht ist, es steht dir nicht zu, sie zu kritisieren. Und die Leidenschaft, die dich und den jungen Cantoni verbindet, wird irgendwann vorbei sein, wenn du nicht aufhörst, daran zu zweifeln. Wenn du voller Zweifel bist, wie soll eure Beziehung dann Bestand haben? Denk darüber nach, Mara!«
Sie blieb noch lange in der Kirche, um zu beten und nachzudenken.
Doch je mehr sie grübelte, desto mehr fühlte sie sich wie in einer Sackgasse. Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Wenn Guido und sie sich liebten, war sie glücklich. Das waren kostbare Momente, in denen sie aufhörte zu denken und die Lust aufsog wie einen Schwamm. Die Stunden, die sie in seinen Armen verbrachte, waren ein Fest. Seine blauen Augen sagten ihr mehr als seine Worte. Sein makelloser, muskulöser Körper, der auf ihrem lag, schenkte ihr Erfüllung. Aber anschlieÃend verlieà er das Haus, um zur Arbeit zu gehen, und dann fühlte sie sich nutzlos, einsam und verloren.
Vor einiger Zeit hatte sie Don Tranquillo gefragt: »Wo finde ich Antworten auf die Fragen, die mich bedrücken?«
»In Büchern. Lies über das Leben der Heiligen!«, hatte er erwidert und ihr anschlieÃend einige Bände in die Hand gedrückt, die das Leben der heiligen Rita von Cascia, der heiligen Katharina von Siena und der heiligen Teresa von Avila beschrieben. Sie hatte sie gelesen, langweilig, kitschig und dumm gefunden. »Lieber hätte ich etwas über das Leben der Ameisen gelesen«, hatte sie Don Tranquillo gestanden, als sie sie ihm zurückgegeben hatte.
»Das liegt an deiner mangelnden Bildung, aber mach dir nichts draus! Bete auch weiterhin, dann kommen die Antworten irgendwann von selbst«, hatte er gesagt.
Sie verlieà die Kirche und kehrte nach Hause zurück, wobei ihr die Worte des Beichtvaters noch in den Ohren klangen: »Die Leidenschaft, die dich mit dem jungen Cantoni verbindet, wird irgendwann vorbei sein.« Doch sie glaubte nach wie vor an die ewige Liebe.
Als sie die Wohnung betrat, klingelte das Telefon. Sie beeilte sich dranzugehen. Es war Guido.
»Heute Abend kann ich nicht nach Mailand kommen. Ich übernachte bei meiner Familie, denn morgen um sechs geht mein Flieger nach Rom. Mein Vater und ich haben um neun einen Kundentermin. Schaffst du es, bis morgen Abend ohne mich zu sein?«, fragte er.
»Bis auf dich habe ich alles, was ich brauche. Bis morgen!«
Sie legte auf und ging in die Küche. Sie öffnete den Kühlschrank. Darin entdeckte sie fritelle mit Zucchini, die Guido so gern mochte, und eine Fischsuppe. Sie musste sie nur aufwärmen, und schon war das Abendessen fertig.
Das Telefon klingelte erneut. Wieder Guido.
»Bist du böse?«, fragte er.
»Ich bin einsam«, erwiderte sie.
»Das kann gar nicht sein, denn ich bin in Gedanken bei dir.«
»Ich auch bei dir. Aber ich bin trotzdem einsam.«
Sie kam sich vor wie eine Geliebte, die wusste, dass er den Abend, die Nacht und den darauffolgenden Tag mit der Ehefrau verbringen würde.
»Willst du mitkommen nach Rom?«
»Das wäre nicht gut, und das
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