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Bei Anbruch des Tages

Bei Anbruch des Tages

Titel: Bei Anbruch des Tages Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sveva Casati Modignani
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hatten, wurden in Handschellen abgeführt. Als Raffaele an Amaranta vorbeiging, hatte er sie angelächelt und geflüstert: »Du bist genau im richtigen Alter, dass man es dir anständig heimzahlen kann.«
    Was dieser geflüsterte Satz genau zu bedeuten hatte, sollte Amaranta wenige Wochen später erfahren, als der Onkel aus dem Gefängnis kam und ins Dorf zurückkehrte.
    An einem Oktoberabend vergewaltigte er sie draußen auf dem Land bei der Olivenernte. Als er sich anschließend die Hose zuknöpfte und sie weinte, hatte er ihr ins Gesicht gespuckt.
    Amaranta war an diesem Abend spät nach Hause gekommen und hatte niemandem gegenüber auch nur ein Wort gesagt. Auch als man ihr die Schwangerschaft bereits ansah, hatte sie noch geschwiegen. Hätte sie die Wahrheit gesagt, hätte der Vater den Bruder ermordet und wäre im Gefängnis gelandet. Ihre Eltern schlugen und quälten sie, um herauszufinden, wer sie verführt hatte.
    Doch da Amaranta hartnäckig schwieg, schickten sie sie in ein Kloster, wo ihr Kind nach nur sechs Monaten zur Welt kam und sofort nach der Geburt starb.
    Â»Im Kloster habe ich gelernt, Trost im Gebet zu finden. Hätte ich damals nicht mit dem Herrn sprechen können, wäre ich verrückt geworden«, erklärte sie jetzt Guido.
    Guido war entsetzt von Amarantas Geschichte und sah sie mitfühlend an.
    Â»Jetzt verstehst du vielleicht, warum mir das Beten so wichtig ist«, fügte die junge Frau noch hinzu. »Bitte tu nichts, was mich leiden lässt. Wenn du nur eine Affäre mit mir willst, gib mich auf. Denn du gefällst mir so sehr, dass ich dir nicht mehr lange werde widerstehen können.«

13
    A lle kritisieren mich, egal, was ich tue«, beklagte sich Amaranta.
    Sie saß mit Guido auf der Terrasse seiner Mailänder Wohnung und genoss die sonntägliche Mittagssonne, während die Kirchenglocken von San Babila läuteten.
    Â»In der Fabrik kann ich nicht mehr arbeiten, weil mich alle meine Kollegen ihre Missbilligung spüren lassen. Deiner Familie bin ich ein Dorn im Auge. Meine Eltern sind tot, und meine Verwandten in Kalabrien sind für mich gestorben!«
    Â»Dafür hast du jetzt mich«, sagte Guido. »Ich verstehe, dass du nicht mehr in Villanova bleiben willst, so wie dich die Menschen dort behandeln. Aber hier in der Stadt lassen dich alle in Ruhe.«
    Â»Nicht zuletzt, weil du mich von deinen Freunden fernhältst, was sicher richtig ist, denn ich würde mich in ihrer Gegenwart bloß unwohl fühlen – und sie sich in meiner. Ich frage mich nur, wie lange du noch so zurückgezogen leben willst: Du triffst dich mit niemandem mehr, und ich weiß nicht, ob das gut ist.«
    Â»Das ist doch nur vorübergehend. Wir überstürzen nichts und warten ab. Ehrlich gesagt vermisse ich meine mondänen Freunde überhaupt nicht. Es entspannt mich, mich mit dir über alltägliche Dinge zu unterhalten, wenn du mir vom Supermarkt an der Porta Venezia erzählst, der Lebensmittel verkauft, die du beim Salumaio von Montenapoleone nicht findest, vom tauben Pfarrer von San Babia, der die Beichtenden zwingt, ihm ihre Beichten zuzuschreien, und von Ginas Angewohnheit, die von ihr gekochten Speisen abzuschmecken, ohne den Löffel abzuspülen. Das ist viel angeneh mer als die gestelzten Gespräche mit gewissen Leuten, die mit der Quantentheorie beginnen und mit dem neuesten Maserati-Modell oder der Jaeger-le-Coultre-Mondphasen-Uhr enden«, sagte Guido, wobei er sanft über ihren Arm strich.
    Die Cantonis hatten sich »zumindest vorläufig« geweigert, Ama ranta bei sich zu empfangen, weil sie fest davon überzeugt waren, dass Guido einen Fehler beging. Und dabei wollten sie ihn nicht unterstützen. Er hatte sich nicht darüber aufgeregt, und wenn er bei seinen Verwandten war, vermied er es sorgfältig, von Amaranta zu erzählen, auch wenn er fest davon überzeugt war, dass sie die Frau seines Lebens sei.
    Â»Es ist Mittag. Gehen wir?«, fragte sie.
    Guido nickte.
    Sie verließen das Haus und stiegen ins Auto. Sie fuhren nach Villanova. Dort würde sie ihre Tante im Altersheim besuchen, mit ihr essen und ihr Gesellschaft leisten, bis Guido sie nach dem Mittagessen mit seiner Familie wieder abholen würde.
    Sie waren jetzt seit einem Monat zusammen, hatten aber noch nicht viel mehr Zärtlichkeiten als ein paar Küsse ausgetauscht. Wegen der Vergewaltigung

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