Bei Anbruch des Tages
deine Aufgabe wird es sein, dieses Unternehmen zu führen«, hatte Renzo erwidert.
Guido hatte es kurz mit der Angst zu tun bekommen. Für einen Moment hatte er sich völlig wehrlos gefühlt. So wie wenn er mit sei nen Freunden Indianer spielte und an den Marterpfahl gebunden wurde. An diesen Vorfall musste er nun zurückdenken. Noch nie zuvor hatte er sich so als Sklave einer Arbeit empfunden, die ihm nicht lag. Als Sklave einer Liebe, die ihn nicht glücklich, sondern unglücklich machte. Plötzlich hörte er ein Geräusch am Fenster. Er öffnete die Augen und sah sich um. Er war allein. Das Geräusch wiederholte sich, und er schob den Vorhang beiseite. DrauÃen war es hell, und auf dem Vorplatz sah er Amaranta, die Kieselsteine in der Hand hielt und in seine Richtung sah. Der Nachtwächter stand neben ihr. Guido öffnete das Fenster, und sie sagte: »Komm runter!«
»Komm rauf«, erwiderte er.
Kurz drauf hörte Guido Schritte, die sich seiner Bürotür näherten.
12
M an sah Amaranta an, dass sie nicht geschlafen hatte.
Ihr Haar war noch zerzauster als sonst, und sie trug die Kleidung vom Vorabend. Sie nahm gegenüber von Guido Platz und sagte kaum hörbar: »Warum behandle ich dich so?«
Guido, der aufgestanden war, um sie zu begrüÃen, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und beschränkte sich darauf, ihr wortlos in die Augen zu sehen.
»Ich vertraue mich nur ungern anderen an, nicht einmal dir. Nur dem Herrn kann ich alles sagen, da er mich nicht verurteilt«, brachte sie hervor. Guido schwieg gereizt und bereitete sich auf weitere Lügen vor.
»Hör mir gut zu, denn über das, was ich dir jetzt erzähle, werde ich nie wieder sprechen. Nicht dass ich mich vor dir rechtfertigen müsste, aber es ist passiert, als wir in unser Dorf in Kalabrien zurückgekehrt sind. GroÃvater war gestorben und hatte meinem Vater seinen gesamten Besitz vermacht. Solange er lebte, hatte er sich stets geweigert, seinem Sohn etwas zu geben, weil er meine Mutter verachtet hat. Als mein Vater sie gegen den Willen meines GroÃvaters geheiratet hat, hat er ihn aus dem Haus gejagt und gedroht, ihn zu enterben. Doch nach GroÃvaters Tod hatten wir auf einmal einen wunderschönen Bauernhof, einige Hektar Olivenhaine und sehr viel Geld. Ich war damals fünfzehn«, erklärte Amaranta. Dann erzählte sie Guido, dass sie nach ihrer Rückkehr sofort die Rache der Brüder ihres Vaters zu spüren bekommen hätten. Nachdem der Vater den nach Norditalien ausgewanderten Sohn verstoÃen hatte, hatten sie mit dem ganzen Erbe gerechnet, aber nur den Pflichtteil bekommen.
»Du wagst es, hier aufzutauchen und zu behaupten, dass das alles dir gehört, nur weil es auf irgendeinem Stück Papier steht?«, hatten die beiden Brüder geschrien, als sich die ganze Familie in der Küche des Bauernhofes versammelt hatte.
»Du hast jedes Recht verwirkt, als du die da geheiratet hast!«, hatte eine Schwägerin gezischt und mit dem Finger auf Amarantas Mutter gezeigt.
»Das ist meine Frau, und du wirst sie respektieren. Bitte sie sofort um Entschuldigung!«, hatte Antonio Casile wütend befohlen.
Da hatte sich die Frau umgedreht, ihnen den Hintern entgegengestreckt und lachend verkündet: »Entschuldige, Schwägerin.«
Antonios Fuà war nach vorn geschnellt, hatte ihren Hintern getroffen und sie zu Boden geschickt.
Sein Bruder Raffaele, der mit der Frau verheiratet war, hatte ein Klappmesser gezückt, was ihm sein jüngerer Bruder Michele sofort nachtat. Antonio, der so viele Jahre im Norden gelebt hatte, hatte kein Messer dabei. Stattdessen hob er drohend einen Hocker über den Kopf, um sich zu verteidigen.
Die Frauen, die die Männer zur Vernunft hätten mahnen müssen, wiegelten sie noch zusätzlich auf. Amaranta, die bei den Kindern stand, wusste, dass die Familie ihres Vaters ihre Mutter verachtete, weil sie bei der Heirat mit Antonio bereits im sechsten Monat schwanger gewesen war. Die Casiles waren der Meinung, Antonio hätte sie verlassen sollen, anstatt sie zu heiraten, weil sie sich von ihm hatte schwängern lassen. Entsetzt über die Szene, war das Mädchen hinausgerannt und aufs Rad gestiegen, um ins Dorf zu fahren und Hilfe zu holen.
Wenige hundert Meter von ihrem Haus entfernt war Armaranta auf die Carabinieri getroffen.
Raffaele und Michele Casile, die Antonio verletzt
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