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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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erwiderte der Hauptmann erneut lächelnd und tippte mit dem Finger auf die Karte, »zwischen dem Massiv, der Nationalstraße, den Schluchten von Daluis und dem Tal der Tinée ist Massarts Sammelbezirk für den Schlachthof von Digne. In Saint-Victor, Pierrefort, Guillos, Ventebrune, La Castille sind die größten Schäfereien angesiedelt, die den Schlachthof beliefern. Soviel zu Ihren ›Markierungen‹.«
    Lawrence faltete wortlos seine Karte zusammen.
    »Unbildung, Monsieur Johnstone, führt zu den verrücktesten Gedanken.«
    Lawrence steckte die Karte ein und packte seine Papiere zusammen.
    »Also keinerlei Chance, daß es auch nur die geringste Untersuchung gibt?« fragte er.
    Der Hauptmann schüttelte den Kopf.
    »Keinerlei Chance«, bestätigte er. »Wir werden nach der üblichen Prozedur vorgehen und Massart suchen, solange noch Hoffnung besteht, ihn lebend zu finden. Aber ich befürchte, daß das, wie soll ich sagen, Gebirge ihn bereits verschlungen hat.«
    Er streckte Lawrence die Hand hin, ohne sich zu erheben. Der Kanadier schüttelte sie wortlos und wandte sich zur Tür.
    »Einen Augenblick noch«, rief der Hauptmann.
    »Ja?«
    »Was bedeutet ›bullshit‹ eigentlich genau?«
    »Es bedeutet ›Stierscheiße‹, ›Bisonscheiße‹ und ›Scheren Sie sich zum Teufel‹.«
    »Danke für die Auskunft.«
    »Keine Ursache.«
    Lawrence öffnete die Tür und ging hinaus.
    »Nicht sehr höflich, dieser Typ«, bemerkte der Hauptmann.
    »Die sind da alle so«, erklärte Lemirail. »Alle so. Nicht böse, aber ungehobelt. Sie haben keinerlei Raffinesse. Keinerlei Raffinesse.«
    »Ignoranten halt«, schloß der Gendarmeriehauptmann.

14
    Camille hatte kein Licht angemacht. Lawrence aß eine Kleinigkeit im Halbdunkel, bevor er in den Mercantour zurückkehrte. Mercier wartete auf ihn, Augustus, Elektra, alle warteten auf ihn. Er wollte Wildkaninchen für den alten Gesellen jagen und die anderen im Morgengrauen sehen. Danach würde er zur Beerdigung der Dicken wieder herunterkommen, hatte er gesagt. Er aß schweigend, zornig und mit düsterer Miene.
    »Dieser verdammte Gendarmeriehauptmann ist völlig von Stolz zerfressen«, murmelte er. »Er kann es nicht ertragen, daß jemand mehr weiß als er. Er hält es nicht für möglich, daß ihm ein ungebildeter Kanadier - denn die Kanadier sind ungebildet und reiben sich mit Bärenfett ein - irgendwas über jemanden von hier sagen könnte. Und er stinkt nach Schweiß.«
    »Vielleicht beruhigt sich die Sache ja«, versuchte Camille einzuwenden.
    »Die Sache wird sich überhaupt nicht beruhigen. Erst wenn Massart seinen Wolf mangels Möglichkeit, sich selbst auf sie zu stürzen, auf ein gutes Dutzend Frauen losgelassen hat, werden die Bullen ihren Arsch hochkriegen.«
    »Ich glaube, er wird bei den Schafen bleiben«, sagte Camille. »Er hat Suzanne getötet, um sich zu schützen. Vielleicht verzieht er sich nach Manchester und hört auf. Das Dorf hat ihn verrückt gemacht.«
    Lawrence betrachtete sie und streichelte ihr Haar.
    »Es ist beunruhigend«, sagte er, »nirgends siehst du das Böse Ich fürchte, du bist ziemlich weit von der Wirklichkeit entfernt.«
    »Möglich«, sagte Camille leicht gekränkt und zuckte die Achseln.
    »Hast du's eigentlich nicht verstanden? Hast du es wirklich nicht verstanden?«
    »Ich hab so viel verstanden wie du.«
    »Aber nicht im geringsten, Camille. Nichts hast du verstanden. Du hast nicht verstanden, daß Massart Schafe umgebracht hat. Keine Hammel, keine Lämmer, keine jähzornigen und angeberischen alten Böcke. Schafe, weibliche Schafe, Camille. Aber das ist dir völlig entgangen.«
    »Möglich«, wiederholte Camille, der gerade klar wurde, daß ihr das wirklich völlig entgangen war.
    »Weil du kein Mann bist, das ist der Grund. Du spürst das Weibliche an diesen Schafen nicht. Du spürst die sexuelle Aggression nicht, die in diesem Töten liegt. Du glaubst, Massart wird aufhören. Meine kleine Camille. Aber Massart kann nicht aufhören. Begreifst du nicht, daß dieser verdammte Schafsmörder in erster Linie ein Vergewaltiger ist?«
    Camille wiegte den Kopf. Sie begann zu begreifen.
    »Glaubst du, daß er jetzt, wo er vom Schaf zur Frau übergegangen ist, brav nach Manchester fährt und sich beruhigt? God. Er wird sich überhaupt nicht beruhigen. Nicht eine Sekunde lang. Er ist entfesselt. Er ist vielleicht unbehaart und hat kein Messer, aber sein Wolf macht das wett, und zwar hundertfach. Er wird das Tier auf die Frauen hetzen und wird

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