Bei Einbruch der Nacht
Türfüllung. Keine Stimme, kein Ruf. Erneut kurze Stille, dann zwei Schläge. Camille sah, wie die Türklinke sich senkte und dann wieder hob. Mit klopfendem Herzen sprang sie aus dem Bett. Sie hatte den Schlüssel zwar im Schloß herumgedreht, aber wer immer es wollte, könnte mit der Schulter das Fenster eindrücken und hereinklettern. Massart? Massart konnte sie dabei beobachtet haben, wie sie seine Hütte betraten. Oder wie sie bei der Gendarmerie waren. Wer sagte, daß Massart nicht gewartet hatte, bis der Kanadier aufgebrochen war, um herzukommen und sich im Schutz der Nacht mit ihr auseinanderzusetzen, von Mann zu Frau? Mit dem Wolf?
Sie zwang sich, tief durchzuatmen, und schlich geräuschlos zu ihrer Werkzeugtasche. Die gute alte Tasche, voll mit Hämmern, Kombizangen und dem metallenen Ölkännchen mit Sprüher. Sie nahm das Ölkännchen in die linke Hand, einen Schlägel in die Rechte und bewegte sich langsam zum Telefon. Sie stellte sich vor, wie der unbehaarte Mann hinter der Tür stand und leise einen Zugang suchte.
»Camille?« rief plötzlich Solimans Stimme. »Bist du's?«
Camille ließ die Arme sinken und öffnete. In der Dunkelheit erkannte sie die Silhouette des jungen Mannes und sein erstauntes Gesicht.
»Hast du was repariert?« fragte er. »Um die Zeit?«
»Warum hast du nicht gesagt, daß du es bist?«
»Ich wußte nicht, ob du schläfst. Warum hast du nicht geantwortet?«
Sol sah auf das Ölkännchen und den Schlägel. »Ich hab dir Angst eingejagt, oder?«
»Möglich«, erwiderte Camille. »Komm jetzt rein.«
»Ich bin nicht allein«, sagte Sol zögernd. »Der Wacher ist bei mir.«
Camille sah über Solimans Schulter und entdeckte vier Schritte hinter ihm die aufrechte Silhouette des antiken Hirten. Wenn der Wacher im Dorf war, wenn er die Schäferei verlassen hatte, mußte etwas Außergewöhnliches geschehen sein.
»Was ist passiert, verdammt?« flüsterte sie.
»Noch nichts. Wir wollten dich sprechen.« Camille trat zur Seite, um Sol und den Wacher vorbeizulassen, der sie mit einer kurzen Kopfbewegung grüßte. Mit noch immer zitternden Händen legte sie Ölkännchen und Schlägel wieder hin und bedeutete den Besuchern, sich zu setzen. Der auf ihr ruhende Blick des Alten war ihr unangenehm. Sie holte drei Gläser, die sie randvoll mit Schnaps ohne Rosinen füllte. Seit Suzannes Tod gab es keine Rosinen mehr.
»Vor wem hattest du Angst?« fragte Soliman.
Camille zuckte mit den Achseln. »Nichts. Ich hatte Schiß, das ist alles.«
»Du hast doch sonst nicht so leicht Schiß.«
»Das kommt vor.«
»Wovor hattest du Angst?« fragte Soliman bohrend.
»Vor den Wölfen. Ich hatte Angst vor den Wölfen. Bist du zufrieden?«
»Vor Wölfen, die zweimal an die Tür klopfen?«
»Es ist gut, Sol. Was geht dich das eigentlich an?«
»Du hattest Angst vor Massart.«
»Massart? Der Typ vom Mont Vence?«
»Genau der.«
»Warum sollte ich vor diesem Typen Angst haben? Offenbar ist er im Gebirge verunglückt, und die Bullen suchen ihn.«
»Du hattest Angst vor Massart, und Schluß.«
Soliman kippte das Glas hinunter, und Camille kniff die Augen zusammen.
»Woher weißt du das?« fragte sie.
»Heute abend wird auf dem Dorfplatz nur von ihm geredet«, antwortete Sol mit angespannter Stimme. »Du sollst mit dem Trapper nach Puygiron gefahren sein, um den Bullen zu erzählen, daß Massart ein Werwolf ist, daß er die Schafe umgebracht hat, daß er meine Mutter umgebracht hat und daß er jetzt auf der Flucht ist.«
Camille schwieg. Sie und Lawrence hatten die Leute der Gegend noch überflügelt und einen von ihnen beschuldigt. Das war natürlich durchgesickert. Dafür würden sie bezahlen. Sie trank einen Schluck Schnaps und sah Soliman an.
»Das sollte nicht durchsickern.«
»Es ist durchgesickert. Eine undichte Stelle, die du nicht reparieren kannst.«
»Also gut, Soliman«, sagte sie und stand auf. »Das ist die Wahrheit. Massart ist ein Mörder. Er hat Suzanne in die Falle gelockt. Ist mir völlig egal, ob dir das paßt oder nicht. Das ist die Wahrheit.«
»Jawohl«, sagte plötzlich der Wacher. »Das ist die Wahrheit.«
Er hatte eine dumpfe, brummende Stimme.
»Das ist die Wahrheit«, wiederholte Soliman und beugte sich zu Camille, die sich unsicher wieder setzte. »Der Trapper hat es klar gesehen«, fuhr er rasch fort. »Er kennt die Tiere und kennt die Menschen. Der Wolf hätte meine Mutter nicht angegriffen, meine Mutter hätte den Wolf nicht in die Enge getrieben, und
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