Bei Einbruch der Nacht
gestern.«
»Vergangenen Mittwoch hat Suzanne Rosselin Massart beschuldigt, er sei ein Werwolf.«
»Vor Zeugen?«
»Vor mir.«
»Allein?«
»Allein.«
»Das ist schade. Können Sie mir auch nur einen guten Grund nennen, warum besagte Rosselin Sie als einzigen ins Vertrauen gezogen haben soll?«
»Zwei gute. Für Suzanne waren die Einwohner von Saint-Victor allesamt ungebildete Arschlöcher.«
»Das kann ich bestätigen«, unterbrach Lemirail.
»Bin Ausländer und kenne die Wölfe«, vervollständigte Lawrence.
»Und worauf gründete sich diese - wie soll ich sagen -Anschuldigung?«
»Auf die Tatsache, daß Massart unbehaart ist.«
Der Gendarmeriehauptmann runzelte die Stirn.
»In der Nacht von Samstag auf Sonntag«, fuhr Lawrence fort, »ist Suzanne getötet worden. Am darauffolgenden Tag ist Massart verschwunden.«
Der Hauptmann lächelte.
»Oder hat sich im Gebirge verirrt«, sagte er.
»Selbst wenn Massart sich verirrt hat, in eine Falle gegangen ist oder sonst was getan hat«, wandte Lawrence ein, »hätte die Dogge sich doch nicht verlaufen.«
»Die Dogge wacht sicher an seiner Seite.«
»Man würde sie hören. Sie würde jaulen.«
»Wollen Sie damit sagen, daß ein Werwolf namens Massart besagte Rosselin getötet und dann die, wie soll ich sagen, Flucht ergriffen hat?«
»Ich will damit sagen, daß er Suzanne umgebracht hat, ja.«
»Wollen Sie suggerieren, daß man dieses Individuum ergreifen und ihn dann von der Kehle bis...«
»Scheiße«, sagte Lawrence. »Bullshit. Das hier ist eine ernste Angelegenheit.«
»Sehr gut. Bringen Sie Ihre Anschuldigung vor, und begründen Sie sie.«
»God. Ich glaube, daß Suzanne nicht von einem Wolf getötet wurde, weil sie niemals einen Wolf in die Enge getrieben hätte. Ich glaube, daß Massart sich nicht im Gebirge verlaufen hat, sondern daß er auf der Flucht ist. Ich glaube, daß Massart kein Werwolf ist, sondern ein unbehaarter Geisteskranker, der die Schafe mit Hilfe seines Hundes oder Crassus' des Kahlen umbringt.«
»Wer ist Crassus der Kahle?«
»Ein sehr großer Wolf, den wir seit zwei Jahren aus den Augen verloren haben. Ich glaube, daß Massart ihn sehr jung gefangen und gezähmt hat. Ich glaube, daß Massarts mörderischer Irrsinn mit der Ankunft der Wölfe im Mercantour ausgebrochen ist. Ich glaube, daß er den Wolf gezähmt und ihn zum Angreifen abgerichtet hat. Ich glaube, daß jetzt, wo er eine Frau getötet hat, die Schleusen geöffnet sind. Ich glaube, daß er weitere Menschen umbringen wird, vor allem Frauen. Ich glaube, daß der Wolf Crassus außergewöhnlich groß und gefährlich ist. Ich glaube, daß man die Suche am Mont Vence abbrechen und Massart nördlich von La Castille suchen muß, wo er sich die vergangene Nacht aufgehalten hat.«
Lawrence holte tief Luft. Das waren ganz schön viele Sätze gewesen. Lemirail tippte schnell.
»Und ich glaube«, sagte der Hauptmann noch immer in verbindlichem Ton, »daß die Dinge einfacher sind. Wir haben hier schon genug mit den Wölfen zu tun, um uns nicht auch noch Geschichten von Wolfsdompteuren auszudenken. Hier mag man keine Wölfe, Monsieur Johnstone. Hier bringt man keine Schafe um.«
»Massart bringt sie um, und zwar im Schlachthaus.«
»Sie verwechseln Umbringen und Schlachten. Sie glauben nicht an einen Unfalltod von Suzanne Rosselin, ich aber schon. Besagte Rosselin gehörte zu jenen Individuen, die einen Wolf provozieren, ohne sich um die, wie soll ich sagen, Konsequenzen zu kümmern. Sie war auch jemand, der jeder Legende Glauben schenkte. Sie glauben nicht, daß Massart sich im Gebirge verirrt haben könnte, und ich sage Ihnen, daß Sie das Land nicht kennen. In fünfzehn Jahren sind drei erfahrene Personen hier in der Gegend ums Leben gekommen, und zwar durch Stürze. Eine von ihnen ist nie gefunden worden. Wir haben Massarts Wohnung durchsucht: Es fehlen seine Wanderschuhe, sein Stock, sein Rucksack, sein Gewehr, seine Patronentasche und seine, wie soll ich sagen, Jagdweste. Er hat keine Sachen zum Wechseln mitgenommen und auch kein Reisenecessaire. Das bedeutet, Monsieur Johnstone, daß fragliche Person nicht geflohen ist, wie Sie uns einreden wollen, sondern daß er sich am Sonntag auf einen, wie soll ich sagen, Ausflug begeben hat. Vielleicht sogar auf die Jagd.«
»Ein Mann auf der Flucht nimmt nicht immer seine Zahnbürste mit«, unterbrach ihn Lawrence. »Das ist keine Vergnügungsreise. War Geld im Haus?«
»Nein.«
»Warum hätte er sein Geld auf die Jagd
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