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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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seinem Wolf dabei zusehen, wie er sie an seiner Stelle vergewaltigt.«
    Lawrence erhob sich, schüttelte heftig sein Haar, wie um diese ganze Gewalt abzuschütteln, lächelte und schlang seine Arme um Camille.
    »So ist das«, sagte er leise, »das ist das Tierleben.«
    Nachdem Lawrence verschwunden war, blieb Camille eine Viertelstunde mit der lastenden Stille und mit schwer erträglichen Bildern im Kopf allein.
    Also Musik. Sie schaltete den Synthesizer ein, setzte sich die Kopfhörer auf. Es waren noch zwei Themen zu komponieren, bevor die achte Folge des romantischen Zwölfteilers fertig war.
    Um diese Musik auf Bestellung komponieren zu können, mußte sie sich in die Gefühlswelt der Serienhelden versenken, und deren Auseinandersetzungen brachten sie so zum Schwitzen, daß das Komponieren harte Arbeit war. Der gesamte Inhalt des Zwölfteilers beruhte auf dem frontalen Zusammenprall zweier Dilemmata: Auf der einen Seite das eines reifen Mannes, zwar pensionierter Offizier, aber Baron, der in Folge eines nicht weiter erklärten Dramas den Schwur getan hatte, nie wieder zu heiraten; auf der anderen das einer noch jungen Frau, einer Griechischlehrerin, die in Folge einer ebensowenig erklärten Tragödie den Schwur getan hatte, nie wieder zu lieben. Der Baron widmete sich ganz seinen beiden Kindern, die er in den Mauern seines Schlosses im Anjou unterrichten ließ - es war unbekannt, warum die Kleinen nicht zur Schule gingen. Daher die Begegnung mit der Lehrerin. Gut. Da tauchte unerwartet, dumpf, später gebieterisch ein überwältigendes fleischliches Verlangen zwischen dem Baron und der Griechischlehrerin auf, das die moralischen Schwüre, die die beiden Helden an ihre unerklärten Vergangenheiten banden, einer harten Probe aussetzte.
    Soweit war Camille, und sie mußte sich häufig ziemlich abquälen. Der Baron und die Hellenistin, die ihre Tage damit verbrachten, auf und ab zu gehen, der eine vor dem Kaminfeuer, die andere vor der schwarzen Tafel, wobei sie ihre Fäuste vor unterdrücktem Verlangen ballten, hatten sie schließlich angewidert. Sie haßte sie. Der beste Trick, den sie gefunden hatte, um eine gute, gefühlvolle Musik komponieren zu können und die beiden zu vergessen, bestand darin, Baron und Lehrerin durch einen Wühlmaus-Papa und eine Wühlmaus-Mama zu ersetzen, so wie in ihren Kinderbüchern, damals, als sie noch an die Liebe glaubte. Sie schloß die Augen, rief sich das Bild des in seinem Garten-Overall steckenden stolzen, starken Wühlmaus-Papas mit den beiden kleinen Wühlmäusen vor Augen, die Griechisch lernten und dabei hüpften und mit zärtlichen Blicken die Wühlmaus-Mama in ihrer roten Bluse verfolgten. So lief es besser. Suspense, Spannung, unerklärliches Verschwinden der Wühlmäuse, Rührung des Sich-Wiederfindens. Bis jetzt hatten die Produzenten sich mit dem Soundtrack, den sie ablieferte, sehr zufrieden gezeigt. Das passe exakt zum Thema, hatten sie gesagt.
    Seit Suzannes Tod war die Beschäftigung mit dieser Wühlmaus-Familie, die sich das Leben unermüdlich mit Belanglosigkeiten erschwerte, zu einer harten Prüfung geworden.
    Camille unterbrach ihre Arbeit häufig und ließ die Finger auf der Klaviatur ruhen. Was Lawrence ihrer Ansicht nach an Massart so schockierte - über die schrecklichen Angriffe hinaus -, war, daß er sich eines Wolfs bediente: Massart zog die Wölfe in den Dreck, er diffamierte sie, er würdigte sie herab. Er hatte ihnen in acht Tagen mehr Schaden zugefügt als die Eingaben der Schafzüchter in sechs Jahren. Und das verzieh Lawrence Massart nicht.
    Aber was immer auch geschehen mochte, jetzt herrschte ohnmächtiger Stillstand. Massart war unterwegs, die Gendarmen suchten seine Überreste auf dem Mont Vence, Lawrence war wieder in den Mercantour gezogen, und sie, Camille, kehrte wieder zu ihrem Kampf mit dem Quartett der empfindsamen Wühlmäuse zurück.
    Es war erst ein Uhr morgens, aber sie setzte ihren Kopfhörer ab, schloß die Partitur, legte sich auf das Doppelbett und öffnete den Katalog für handwerkliches Arbeitsgerät auf der Seite des Universalschleifers 125 mm 850 Watt, Doppelgriff und Stopautomatik bei Bürstenabnutzung. Das hätte der Griechischlehrerin eine Menge Sorgen ersparen können, wenn sie sich nur die Mühe gemacht hätte, sich dafür zu interessieren.
    Es klopfte leise an die Tür - zwei Schläge. Camille schreckte hoch und setzte sich auf. Sie wartete regungslos. Erneut zwei Schläge und ein Scharren hinter der hölzernen

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