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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Juli, nahm die Hitze noch ein wenig zu. Benommen warteten sie. Camille fuhr den Laster in den Ort, um den Wassertank zu füllen. Der Wacher rief bei der Herde an, um sich nach dem Knöchel von George zu erkundigen. Soliman vertiefte sich ins Wörterbuch. Camille, die von der Passivität ihrer linken Hand, auf die ihr Geist keinerlei Einfluß zu besitzen schien, etwas durcheinandergebracht war, ließ die Musik sein und flüchtete sich in den Katalog für handwerkliches Arbeitsgerät. Da würde sich gewiß ein Gerät finden, das ihr in der heiklen Situation, in der sie sich befand, weiterhelfen könnte. Der Einpolige thermische Sicherungsschalter +Nulleiter 6 A bis 25 Ampere schien ihr beispielsweise geeignete Eigenschaften zu besitzen. Wenn Adamsberg ihre Hand losließe, würde sich das Problem von selbst lösen. Das Einfachste würde sein, ihn darum zu bitten.
    Erst gegen fünf Uhr nachmittags informierten die Gendarmen von Poissy-le-Roy ihre Kollegen in Vaucouleurs über ein Schafmassaker, das in der vergangenen Nacht in der Schäferei von Chaumes stattgefunden hatte. Die Polizisten von Vaucouleurs alarmierten Beicourt mit Verspätung, und Adamsberg erfuhr erst um acht Uhr abends davon.
    Er breitete die Karte auf der Holzkiste aus.
    »Fünfzig Kilometer westlich von Vaucouleurs«, sagte er. »Wieder abseits der Strecke.«
    »Er entfernt sich«, schimpfte Soliman.
    »Wir rühren uns nicht«, sagte Adamsberg.
    »Er entwischt uns!« rief der junge Mann und stand auf.
    Der Wacher, der zwei Meter entfernt das Feuer schürte, streckte seinen Stock aus und stupste den jungen Mann.
    »Reg dich nicht auf, Sol«, sagte er. »Wir kriegen ihn. Was immer geschieht, wir kriegen ihn.«
    Mit betrübter Miene ließ Soliman sich auf seinen Stuhl fallen, wie jedesmal, wenn der Wacher ihn mit seinem Stock stupste. Camille fragte sich, ob er vielleicht irgendwas in den Stock tat.
    »›Gefügigkeit‹«, brummte Soliman. »›Die Eigenschaft, sich zu unterwerfen; die Neigung zu gehorchen.‹«
    Nach dem Abendessen machte sich Camille hartnäckig daran, den Katalog bis zur Erschöpfung durchzublättern. In der vergangenen Nacht hatte sie kaum geschlafen, und ihre Augen waren schwer. Gegen zwei Uhr morgens ging sie mit der Vorsicht eines Spions zu Bett. Soliman war noch immer mit dem Mofa im Ort. Der Wacher hatte sich an der Landstraße postiert. Er wachte. Er hielt nach dem rothaarigen Mädchen Ausschau. Er schützte Adamsberg, das Wolltrikot auf seinen Füßen zusammengerollt. »Mir schnurz, ich bin nicht müde«, hatte er gesagt.
    Camille setzte sich zunächst auf Solimans Bett, um ihre Stiefel auszuziehen, auch wenn sie dadurch auf dem schmuddeligen Boden des Viehtransporters laufen mußte. Auf diese Weise riskierte sie nicht, Adamsberg zu wecken. Und wer nicht geweckt wird, nimmt auch niemandes Hand. Langsam schob sie die Plane beiseite, indem sie in der Stille vorsichtig eine Bewegung nach der anderen ausführte, und ließ sie geräuschlos wieder fallen. Adamsberg lag auf dem Rücken und atmete gleichmäßig. Mit der Vorsicht eines Diebes bewegte sie sich in dem schmalen Gang, der die beiden Betten trennte, und versuchte dabei, die auf dem Boden glänzende Pistole nicht zu berühren. Adamsberg streckte beide Arme in ihre Richtung.
    »Komm«, sagte er behutsam.
    Camille erstarrte in der Dunkelheit.
    »Komm«, wiederholte er.
    Mit leerem Kopf und unentschlossen tat Camille einen Schritt. Aus der weiten Leere stiegen unbestimmte Erinnerungen, stammelnde Schatten auf. Er legte eine Hand auf ihren Arm und zog sie zu sich. Undeutlich erahnte Camille, wie hinter einer dicken Scheibe eingemauert, die unerreichbaren Umrisse ihrer früheren Sehnsüchte. Adamsberg strich ihr über die Wange, über das Haar. In der Dunkelheit öffnete Camille die Augen, den Katalog noch immer fest in ihrer linken Hand, der Wolke flüchtiger Bilder, die aus den verschlossenen Räumen ihrer Erinnerung aufgestiegen war, jetzt aufmerksamer zugewandt als dem Gesicht, das sie ansah. Sie bewegte die Hand auf dieses Gesicht zu, mit dem beklemmenden Gefühl, daß bei einer Berührung irgend etwas explodieren würde. Vielleicht die dicke Scheibe. Oder die unvermuteten Laderäume dieser Erinnerung, die voll waren mit altem Kram, der noch funktionierte und scheinheilig, lauernd und der Zeit trotzend wartete. Und ungefähr das passierte auch, eine lange Verpuffung, die eher beunruhigend als angenehm war. Sie betrachtete dieses ganze Getöse und das verblüffende

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